Intro
von Cay Dobberke
Veröffentlicht am 10.07.2020
das Sprichwort „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“ meint heutzutage im übertragenen Sinn, dass Senioren nicht aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden sollten. Doch in Schmargendorf geschieht dies nun. Die Wilmersdorfer Seniorenstiftung will ihr Heim an der Lentzeallee wegen hoher Kosten schließen. Sie hat den Mietvertrag mit der Wohnungsgesellschaft Gewobag zum 14. Juni 2021 gekündigt. Von den 81 Bewohnern sind 34 mehr als 90 Jahre alt und die meisten pflegebedürftig.
Aus der Sicht vieler Angehöriger gibt es reihenweise offene Fragen. Daran habe eine Versammlung in dieser Woche wenig geändert, sagt eine Frau, die nicht namentlich genannt werden möchte und die Tochter einer Bewohnerin ist. Nach ihrem Eindruck geht die Stiftung „planlos“ vor. Zur Versammlung mit Gesundheits- und Sozialstadtrat Detlef Wagner (CDU) und der Heimleitung waren jeweils ein(e) Angehörige(r) der Bewohner eingeladen – nicht aber die Betroffenen selbst. Auch der Tagesspiegel durfte nicht dabei sein. Wagner begründete dies mit Platzmangel. Seit seinem Amtsantritt als Stadtrat im Frühjahr 2019 ist er Vorsitzender der Seniorenstiftung, die 1996 vom Bezirksamt gegründet worden war.
Laut Wagner können alle Senioren im kommenden Jahr in Heimen der Stiftung an der Hohensteiner Straße in Wilmersdorf und der Koenigsallee in Grunewald umziehen. Wolle jemand früher in eine andere Senioreneinrichtung wechseln, würden die Umzugskosten ebenfalls finanziert und das Mietverhältnis vorzeitig beendet.
Ulrike Herr, die dem Heimbeirat als Tochter eines Bewohners angehört, bleibt skeptisch. Sie bezweifelt, dass die Stiftung in ihren zwei verbleibenden Heimen genug Ersatzplätze anbieten kann. Vor allem an der Koenigsallee „ist nichts frei, es gibt eine Warteliste“. Wagner erwidert, beide Häuser seien „nicht ganz voll“, auch weil „wir dort sukzessive Zimmer renovieren“. Er gibt allerdings zu, dass vielleicht nicht alle Umzüge bis Mitte Juni 2021 möglich sind. Notfalls würde das Heim an der Lentzeallee „bis zu sechs Monate“ länger als derzeit geplant betrieben.
Das würde jedoch neue Probleme aufwerfen, etwa bei der Personalplanung. Ulrike Herr ist ohnehin besorgt darüber, dass sich die Betreuung in den letzten Monaten verschlechtern könnte, falls Fachkräfte das Haus noch vor der Schließung verließen.
Demenzkranke würden bei jedem Ortswechsel „ihre Bezugspersonen und die Orientierung verlieren“, befürchtet die Beiratsvertreterin. Noch dazu seien die in Aussicht gestellten Ersatzquartiere unattraktiver. Nur in der Lentzeallee habe jede Wohnung einen Balkon. Außerdem gebe es in der Hohensteiner Straße lediglich Gemeinschaftstoiletten und -duschen in den Fluren.
Gerüchte, wonach Bewohner mit der Unterbringung in Zweibettzimmern rechnen müssten, weist der Stadtrat und Stiftungsvorsitzende dagegen zurück. Man plane auch keine zwangsweise Verteilung der Senioren auf Heime anderer Träger. Niemand müsse befürchten, beispielsweise „weit weg in Marzahn“ untergebracht zu werden.
Die eigenständige Suche nach einem neuen Heimplatz sei für Angehörige derzeit kaum möglich, beklagt Ulrike Herr. Freie Zimmer gebe es so gut wie nirgends zu einem erträglichen Preis und in einer akzeptablen Entfernung.
Warum schließt das Haus an der Lentzeallee überhaupt? Laut Wagner haben Wirtschaftsprüfer berechnet, dass sonst „die gesamte Stiftung finanziell gefährdet“ sei. Seit Jahren verursache das Heim jeweils „ein sechs- bis siebenstelliges Minus“. Dazu trage der hohe Anteil an Leasingkräften bei. Die „Pflegekraftquote“ aus eigenem Personal liege unter 50 Prozent. Leasingunternehmen hätten Angestellte mit besserer Bezahlung abgeworben. An den zwei anderen Standorten müsse die Stiftung außerdem keine Miete zahlen – weil ihr diese Immobilien selbst gehören.
Die Gewobag habe sich als „schwieriger Vermieter“ erwiesen, sagt Wagner. Das habe sich beispielsweise gezeigt, als vor einiger Zeit die Aufzüge lange nicht funktionierten. Der Vorsitzende des BVV-Sozialausschusses, Norbert Wittke (SPD), wirft der Gewobag vor, sie habe das Haus „verkommen lassen“. Sie wolle abreißen, um ein neues Seniorenheim zu bauen und selbst zu betreiben. Dazu sagt Wagner, der Bezirk habe ein „Mitspracherecht“ bei der Nutzung des Grundstücks. In den 1970er Jahren habe Wilmersdorf es verkauft und dann zurückgemietet. Der Vertrag beinhalte einen „Rückübertragungsanspruch“ im Jahr 2050.
Mehrere SPD-Politiker zeigen sich in einer schriftlichen Erklärung „sehr betroffen“ über die Schließung. Bis vor Kurzem habe das Bezirksamt immer nur deutlich gemacht, dass eine „Kernsanierung“ des Gebäudes nötig sei. „Altersgerechtes Wohnen muss auch bei uns im Bezirk möglich bleiben, auch ohne eine üppige Rente“, fordert die Berliner Abgeordnete Ülker Radziwill, die in ihrer Fraktion als Sprecherin für Senioren fungiert.
Die bezirkliche FDP-Fraktion begrüßt den „klaren Schlussstrich“ an der Lentzeallee. Die Probleme seien „zu umfassend“, sagte uns der Sozialpolitiker Pascal Tschörtner. Das Spektrum reiche „vom schlechten Gebäudezustand über fehlendes Personal, wiederholte Belegungsstopps, einer zu hohen Leiharbeitsquote bis hin zu unterdurchschnittlichen Qualitätsnoten“. Durch die einjährige Übergangszeit müsse niemand sofort ausziehen. Künftig solle sich die Stiftung auf ihre 15 Seniorenwohnhäuser und zwei Seniorenclubs „fokussieren und ihr dortiges Angebot ausbauen“.
Überraschenderweise kündigt Detlef Wagner an, die Stiftung wolle sogar als Heimbetreiber „wieder expandieren“. Man prüfe eine „Aufstockung“ an der Hohensteiner Straße. „Auch ein neuer Standort ist möglich.“ Bei allen Planungen gelte: „Wir sind nicht an Gewinnen interessiert.“ Aktuell gehe es allein darum, einen „Ruin“ der Stiftung zu verhindern.
Schon jetzt ist klar, dass sich alle Beteiligten noch lange mit der Umsiedlung der Senioren beschäftigen müssen – und dieser Bericht im Newsletter sicher nicht der letzte sein wird.
Cay Dobberke, geboren in Berlin, wohnt seit mehr als 25 Jahren in Wilmersdorf. Wenn Sie Anregungen, Kritik, Wünsche, Tipps haben, schreiben Sie ihm bitte eine E-Mail an cay.dobberke@tagesspiegel.de