Intro

von Cay Dobberke

Veröffentlicht am 08.07.2022

lasst den Leuten doch einfach ihren Spaß! Das würde ich gerne allen Berlinerinnen und Berlinern zurufen, die am Nachfolger der Loveparade herumnörgeln. Deren Gründer DJ Dr. Motte startet Rave the Planet am morgigen Sonnabend gegen 14 Uhr am Kurfürstendamm in Höhe des U-Bahnhofs Uhlandstraße. Dann geht es über den Ku’damm und die Tauentzienstraße durch Schöneberg und Mitte bis zur Siegessäule am Großen Stern im Tiergarten. Die neue Technomusik-Parade ist als Demonstration mit etwa 25.000 Teilnehmenden angemeldet.

Anders als die Loveparade wird sie in Medien oder in der Landespolitik nicht gefeiert. Auch in meinem privaten Umfeld überwiegt die Skepsis. Sinngemäß heißt es: Wer geht denn noch zu so einer Retro-Parade? Techno ist tot! Und: Das ist doch keine Demo!

Meine Gegenfrage: Warum sollte der Umzug nicht stattfinden – wen stört’s? Sicherlich werden Autofahrende entlang der Strecke im Stau stehen und fluchen. Aber der Ku’damm wurde schon Mitte Juni auf zwei Kilometern Länge für das Oldtimer-Festival „Classic Days Berlin“ gesperrt. Daran gab es kaum Kritik. Schöne alte Autos mit einem Glas Sekt in der Hand zu bewundern, scheint gesellschaftsfähiger, als zu wummernden Bässen neben Partywagen zu tanzen.

Die politische Überhöhung durch Dr. Motte ist fragwürdig. Aktuell fordern er und eine von ihm gegründete Stiftung, die „Technokultur in Berlin“ als Immaterielles Kulturerbe der Unesco anzuerkennen und einen „Tag der elektronischen Tanzmusikkultur“ als gesetzlichen Feiertag einzuführen. Vor allem Letzteres wirkt sehr realitätsfern.

Das Bundesverfassungsgericht hatte die Frage, ob die originale Loveparade eine Demo war oder als solche angemeldet wurde, damit die Veranstalter nicht für Sicherheit und Müllbeseitigung zahlen müssen, im Jahr 2001 klar beantwortet: Es handele sich um ein „Straßenfest“. Und bereits 1995 kritisierte Berlins Innenverwaltung die „Fete, die ihr eigentliches Gepräge durch den von ihr ausgehenden Lärm erhält“. Ich stellte mir damals vor, dass die zuständigen Beamt:innen zum Lachen in den Keller gehen.

Ist Hedonismus schlimm? Besucher:innen der Loveparade wollten Freude, Lust und Ekstase. Niemand ging hin, um die seltsamen Reden von Dr. Motte zu hören. Ab der vierten Loveparade auf dem Ku’damm war ich dabei.

Auf der Straße des 17. Juni wurde es später schwieriger. Es gab berechtigten Ärger um Müllberge, zerstörtes Grün und Uringestank im Tiergarten sowie die extreme Kommerzialisierung. Die Raver-Party wurde zum Volksfest. Biertrinker am Straßenrand beschränkten sich darauf, die leicht bekleideten Tänzerinnen auf den Wagen anzuglotzen. Der damalige Sender Freies Berlin (SFB) kam sogar auf die Idee, Gotthilf Fischer auf einer Bühne seine Volkslieder singen zu lassen. Lesen Sie dazu meine Chronologie der Loveparade, die 2014 anlässlich des 25. Gründungsjubiläums im Tagesspiegel stand.

Heute ist Techno kein Massenphänomen mehr. Aber es gibt noch Clubs wie das Berghain und einige andere. Im Sommer kommen Open-Air-Partys im Umland hinzu. Bevor der Karneval der Kulturen infolge der Coronakrise ausfiel, rollten auch dort stets Techno-Wagen mit. Sie wurden von sehr vielen tanzenden Menschen begleitet, was den Eindruck widerlegte, die Musik sei von vorgestern.

Fragwürdig scheint der Wunsch von Dr. Motte, den Namen Loveparade wieder aufleben zu lassen. 2010 waren in Duisburg 21 Besucher im Gedränge gestorben und mehr als 500 verletzt worden. Dr. Motte kann nichts dafür. Er und seine Mitveranstalter hatten die Namensrechte zuvor an den Chef der Fitnesskette McFit, Rainer Schaller, verkauft. Doch ein eventueller Rückerwerb würde geschmacklos wirken. Der Name der Parade ist untrennbar mit der Katastrophe verbunden.

Ich war mal ein Raver, auch wenn ich selten so aussah. Ich trug keine Müllfahrerwesten, sondern höchstens mal ein buntes T-Shirt, und kletterte nicht mit nacktem Oberkörper auf Laternenmasten. Aber ich kannte die Paraden und besuchte vor drei Jahrzehnten so gut wie alle Techno-Clubs. Heute gefällt mir der Zug der Liebe im Osten Berlins, der wirklich eine politische Kundgebung ist – etwa mit Wagen türkischer Homosexueller, Friedensinitiativen oder des Tierheims Berlin, das sich für den Tierschutz einsetzt.

Im Vergleich dazu ist „Rave the Planet“ politisch schwach. Wird der russische Krieg gegen die Ukraine überhaupt eine Rolle spielen? Andererseits klingt das lächerliche Motto der allerersten Loveparade („Friede, Freude, Eierkuchen“) gar nicht mehr so verkehrt. Ein fröhliches Fest junger Leute aus vielen Ländern sei ein Zeichen gegen Krieg und Gewalt, hatte Dr. Motte früher einmal argumentiert. Da ist was dran.