Namen & Neues

Telefonseelsorge besteht seit 65 Jahren - doch an die Gründer:innen erinnert nichts

Veröffentlicht am 10.09.2021 von Cay Dobberke

Die erste deutsche Telefonseelsorge für anonyme und vertrauliche Gespräche über Lebensprobleme gründeten die Eheleute Helene und Julius Wissinger am 5. Oktober 1956 als „Lukas-Gemeinschaft (Lebensmüdenbetreuung)“ in ihrer Charlottenburger Wohnung an der Carmerstraße 2. Maßgeblich beteiligt war der Pfarrer, Arzt und Psychotherapeut Klaus Thomas. Kurz darauf zog der Verein an die Jebensstraße 1 neben dem Bahnhof Zoo um, später wurde er in Telefonseelsorge Berlin umbenannt. Seit 1995 residiert diese in Neukölln.

„Das originäre Kernanliegen war und ist die Suizidverhütung“, schrieb uns der Wirtschaftspädagoge, Kurzzeittherapeut und Journalist Franz-Josef Hücker. Er arbeitet seit rund 20 Jahren ehrenamtlich als Telefonseelsorger, gehört dem Verein an, spendet Geld und publiziert unter anderem eine bundesweite Suizidstatistik. Aber er vermisst eine öffentliche Würdigung der Gründer:innen.

Der heutige 10. September ist der Welttag der Suizidprävention
der Weltgesundheitsorganisation WHO. Dazu gibt es um 18 Uhr einen ökumenischen Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.

Die Geschichte der Telefonseelsorge ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Es gibt keine Gedenktafel in der Carmer- oder der Jebensstraße.

Die Senatskanzlei lehnte Hückers Bitten ab, die Gräber von Helene Wissinger (1892–1976) und Julius Wissinger (1884–1965) auf dem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Friedhof am Fürstenbrunner Weg und von Klaus Thomas (1915–1992) auf dem Friedhof Zehlendorf an der Onkel-Tom-Straße zu Ehrengrabstätten der Landes Berlin zu erklären.

Erste Bemühungen, Klaus Thomas mit einer Ehrengrabstätte zu würdigen, scheiterten in den Jahren 2012 bis 2013 in der Amtszeit des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD). Dessen Nachfolger Michael Müller (SPD) teilte Hücker im Sommer 2020 mit, die Voraussetzungen seien weder bei Thomas noch beim Ehepaar Wissinger erfüllt.

Ausschlaggebend sei zum einen „das fortlebende Andenken an die verstorbene Persönlichkeit in der allgemeinen Öffentlichkeit“, stand im Antwortschreiben. Damit müssten „hervorragende Verdienste mit engem Bezug zu Berlin oder darüber hinaus einhergehen“. Die Erfüllung eines der beiden Kriterien reiche nicht aus.

Hücker nimmt an, dass der geringe Bekanntheitsgrad der ersten deutschen Telefonseelsorger:innen gemeint ist. Diese Tatsache sei „nicht zu bestreiten“. Trotzdem findet er das Argument „unverständlich“. Längst nicht alle Persönlichkeiten, für die Ehrengrabstätten existieren, genössen eine hohe Popularität.

An der Bedeutung der Telefonseelsorge kann es aus seiner Sicht keine Zweifel geben. Das bundesweite Netzwerk aus 104 Beratungsstellen mit fast 300 Festangestellten und mehr als 7700 ausgebildeten Ehrenamtlichen sei nicht zuletzt wegen der „mangelhaften psychotherapeutischen Versorgung“ in Deutschland wichtig. Nach Hückers Kenntnis wurden beispielsweise im Jahr 2019 mehr als 1,2 Millionen Telefonate geführt und beinahe 10,5 Millionen Anrufversuche registriert. „Dazu kommen noch E-Mail und Chat.“ Durch die Coronakrise seien die Zahlen weiter gestiegen. Vor allem unter 15- bis unter 20-Jährigen gebe es einen „geradezu extrem“ gewachsenen Gesprächsbedarf.

Die Berliner Telefonseelsorge ist konfessionell ungebunden, aber ebenso wie die evangelischen Stellen gebührenfrei unter 0800 111 0 111 erreichbar. Das Pendant der katholischen Kirche hat die Rufnummer 0800 111 02 22. Alternativ können Hilfesuchende auch die Nummer 116 123 wählen oder die Onlineseelsorge nutzen.