Nachbarschaft

Veröffentlicht am 09.11.2018 von Cay Dobberke

Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss sind Künstler und Wissenschaftler im Bereich der digitalen Medien, fleischmann-strauss.de.

In den 70er bis 90er Jahren, vor dem Mauerfall, war das Zentrum von Westberlin rund um den Savignyplatz unser Wohnzimmer und die Zeit der genialen Dilettanten. Alle waren Künstler. Wir besuchten die Konzerte von Conny Konzack im Kant Kino mit Blondie, Marianne Faithfull, Nico und The B-52s. In der Hochschule der Künste am Steinplatz lauschten wir hingebungsvoll den Vorlesungen von Robert Kudielka über Farbe und seine überschwemmte Küche. Auf Einladung von Pascal Schöning diskutierten wir mit Alvaro Siza über Architektur und aßen Spagetti bei Mario in der Leibnizstraße. Wir tanzten im Dschungel in der Nürnberger Straße, wo Gerd aufpasste, was läuft, und Annette Humpe darüber sang, Salome mit Drinks jonglierte, David Bowie an der Bar saß, Martin Kippenberger Frauen herumwirbelte und Rio Reiser Musik machte. Die Paris Bar, Treffpunkt der Maler, Literaten, Aktionisten und Schauspieler, wurde wie Exil und Axbax von den österreichischen Situationisten Michel Würthle und Ossi Wiener geführt. Zur Wiener Gruppe gehörte auch Peter Weibel, der heute dem Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe vorsteht und unsere Medienkunstwerke präsentiert aktuell „Liquid Views“.

Gegenüber vom Bahnhof Zoo bezogen wir unser erstes Forschungslabor für Kunst und digitale Medien, ART+COM. „Cyber City“, die visionäre Ost-West-Stadtlandschaft, überquerte Zoo und Reichstag, wo wir lange vor Christo und ein Jahr vor dem Mauerfall  versuchten, diesen Ort ins Bewusstsein zu rufen und für die „Stationen der Annäherung“ (1988) einen erzählerischen Ort schufen, an dem man darüber sprach, warum Annäherungen zwischen Ost und West ebenso wie zwischen Mann und Frau so schwierig sind und warum Frauen der Aufstieg verwehrt wird.

Zu Beginn der 1990er trafen wir bei Veranstaltungen wie Ars Electronica, SIGGRAPH, Imagina, Art Futura die Heroen der Künstlichen Intelligenz, Marvin Minsky und Josef Weizenbaum. Wir lernten Vilém Flusser kennen, der die Künste neu dachte, weil unser Leben technisch wurde. Wir widmeten Flusser, Weizenbaum, Minsky und Paul Virilio virtuelle Gedankengebäude. Unsere VR-Installation „Home of the Brain“ wurde 1992 mit der Goldenen Nica der Ars Electronica ausgezeichnet.

Im Gegensatz zum angesagten Osten ist Charlottenburg heute der Kiez für die Erwachsenen. Der Savignyplatz ist ein Sehnsuchtsort geblieben  mit Wanda Spangenbergs Bücherbogen und dem Einstein-Cafe, mit den Antipasti im Bertolini und dem A-Trane als bestem Jazzclub Deutschlands. Im Café Savigny treffen wir alte und neue Freunde, nutzen das Delphi Kino für Public Viewing, das Ali Baba für die Pizza auf die Hand, das East für die Frühlingsrolle und den Zwiebelfisch für späte Abende.

Unerwartet bekommen wir Preise für unser Lebenswerk, international von der SIGGRAPH für Digitale Kunst, aus Berlin von edition-F für innovative Erfindungen. Jetzt möchten wir „Home of the Brain“ (198992) erneut zeigen, nachdem mit Paul Virilio der letzte unserer vier Denker gestorben ist. Wir wollen beweisen, wie visionär ihre Gedanken heute noch sind.

Foto: Mark Feigmann

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter:  leute-c.dobberke@tagesspiegel.de