Nachbarschaft
Veröffentlicht am 25.10.2019 von Cay Dobberke

Konrad Kutt hat die Nachhaltige BücherboXX erfunden und wurde soeben mit der Bürgermedaille Charlottenburg-Wilmersdorf ausgezeichnet.
Der Büchertausch in ausgedienten Telefonzellen hat sich zum Erfolgsmodell entwickelt – auch über Berlin und Deutschland hinaus. Interessierte können sich Romane oder Sachliteratur gratis mitnehmen und werden gebeten, dafür selbst Bücher in den Regalen in den stählernen Zellen zu hinterlassen. „Das funktioniert gut“, freut sich Konrad Kutt, der das Projekt vor zehn Jahren mit dem Institut für Nachhaltigkeit in Bildung, Arbeit und Kultur ins Leben gerufen hatte. Derzeit gibt es rund 20 „BücherboXXen“ und zahlreiche weitere Telefonzellen, die unabhängig von Kutt durch Bürgerinitiativen oder andere Gruppen zu Straßenbibliotheken umgewandelt wurden.
Die Ur-BücherBoxx steht auf dem Karmielplatz vor dem S-Bahnhof Grunewald. Sie ist besonders dem Gedenken an die Deportation vieler Berliner Juden in Konzentrationslager während der Nazizeit gewidmet, an die am Bahnhof auch das Mahnmal „Gleis 17“ erinnert. Zum 74. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz organisierte Kutt im vorigen Jahr die Aktion „Erinnern durch Lesen“. 25 Menschen trugen im Fußgängertunnel des Bahnhofs aus Werken vor, die einen inhaltlichen Bezug zum NS-Terror und der Judenverfolgung haben (ein Video dazu können Sie auf Youtube sehen).
Darüber hinaus veranstaltet Konrad Kutt im Wohnzimmer seiner nahen Privatwohnung regelmäßig Kultursalons mit Lesungen, Diskussionen, Hausmusik und Kunstausstellungen. Oft geht es auch dort um die Nazi-Verbrechen. Beispielsweise gastierten in dem Salon die deutsch-israelische Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron und die Autorin Helga Schubert, von der das Buch Die Welt da drinnen über das nationalsozialistische Euthanasieprogramm stammt. Bei der Verleihung der bezirklichen Bürgermedaille an Kutt würdigt eine Jury außerdem das Engagement des 78-Jährigen für die „Finanzierung und Aufstellung von Gedenktafeln, um an die einst im Bezirk lebenden Künstler zu erinnern“.
Unser Bild zeigt Konrad Kutt mit einer polnischen Ausgabe des Tagebuchs der Anne Frank. Nach seinen Erfahrungen sind fremdsprachige Bücher gerade am S-Bahnhof Grunewald, wo viele Touristen das Mahnmal besuchen, sehr gefragt. Das polnischsprachige Tagebuch der Anne Frank erhielt Kutt soeben aus der Stadtbibliothek Neukölln, die es wegen geringer Ausleihzahlen ausgemustert hat. In einem Projekt des Jobcenters sammeln Arbeitslose makulierte Bücher in Berliner Bibliotheken und bringen diese in verschiedene Bücherboxen.
Einen politischen Bezug wie am S-Bahnhof Grunewald gibt es an mehreren Standorten (wenn auch nicht an allen). Beispielsweise gastierte das Projekt bereits in mehreren polnischen Städten mit einer „Oder-Partnerschaftx-boXX“. In Berlin beteiligen sich Berufsschüler und Azubis aus Handwerksberufen am Aufbau der Ex-Telefonzellen. „Ich komme aus der Berufsbildungsforschung“, sagt Kutt. Er will „das Buch sichtbar machen und ist auch ständig „an einer innovativen Weiterentwicklung“ der Boxen interessiert. In Grunewald zählt dazu ein Audiogerät, mit dem man sich ausgewählte Texte vorlesen lassen kann. Derzeit ist es wegen einer Reparatur jedoch außer Betrieb.
Eine Übersicht aller Bücherzellen und Bücherboxxen im Bezirk gibt es unter berlin.de.
Foto: Cay Dobberke
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: cay.dobberke@tagesspiegel.de