Nachbarschaft
Veröffentlicht am 05.02.2021 von Cay Dobberke

Anna-Sofie Gerth leitet die City-Station der evangelischen Berliner Stadtmission an der Joachim-Friedrich-Straße 46 in Halensee.
Die Coronakrise erschwert soziale Arbeit, doch manchmal hat die Pandemie sogar positive Folgen. Anna-Sofie Gerth nennt es ein „Glück“, dass plötzlich viele Hotels und Pensionen für Notübernachtungen von Obdachlosen zur Verfügung stehen. Denn normalerweise sind die Schlafplätze der Kältehilfe knapp. Aber auch die Schließung aller Berliner Lokale im Corona-„Lockdown“ brachte für einen Mann, der regelmäßig die City-Station besucht, eine Chance mit sich. Der bisherige Alkoholiker sei „seit sechs Wochen trocken, weil die Kneipen zu sind“, berichtet Anna-Sofie Gerth.
Andererseits fehlen der Sozial- und Seelsorgeeinrichtung nahe dem Kurfürstendamm jetzt 55 ehrenamtliche Helfer(innen). „Knapp 80 Prozent von ihnen gehören zu Risikogruppen“, sagt die Leiterin. Die meisten seien Rentner(innen) oder Leute, die alte und kranke Angehörige pflegen. Deshalb entschieden sich die vier hauptamtlichen Mitarbeiter(innen) der City-Station dazu, vorerst alleine weiterzumachen. Unterstützt wird das Team noch durch zwei Frauen, die sich im Freiwilligen Sozialen Jahr befinden.
Das hauseigene „Nachtcafé“ mit 30 Übernachtungsplätzen musste bis auf Weiteres schließen. Dagegen bleibt das alkoholfreie und besonders preisgünstige Restaurant tagsüber für Obdachlose geöffnet. Menschen, die in Altersarmut oder anderen prekären Lebenssituationen leben, dürfen sich einmal am Tag Lebensmittel abholen.
Die Auswahl auf der Speisekarte existiert nicht mehr. Statt Hauptgerichten für zwei Euro, Eintöpfen für 50 Cent, Desserts für 60 Cent oder Salaten für 30 bis 60 Cent gibt es nur noch Suppen. Diese sind nun immerhin gratis, weil das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf die Kosten trägt. Indirekt bezahlt es über Zuwendungen an die Berliner Stadtmission auch die Gehälter der Angestellten.
Die Hygieneregeln haben den Restaurantbetrieb auch anderweitig verändert. Pro Tag werden nur noch zwei Gruppen aus maximal je 15 Menschen nacheinander in den Speiseraum gelassen. Selbstbedienung gibt es dort nicht mehr, alles wird an den weit auseinander gerückten Tisch serviert. Nachmittags werden zusätzlich „Nothilfepäckchen“ aus der Tür herausgereicht. Sie enthalten keine Hauptmahlzeit, aber unter anderem Brot, Obst und alkoholfreie Getränke. Für 50 Cent kann man sich auch eine Suppe mitnehmen.
Die Nothilfepäckchen sowie die Strom- und Wasserkosten finanziert die City-Station aus Spendengeldern – ebenso wie medizinische Schutzmasken, die kostenfrei an Bedürftige verteilt werden. Unterm Strich „fehlt aber viel Geld“, sagt Anna-Sofie Gerth. Das Hygienekonzept habe die Kosten deutlich erhöht. Wer online für die City-Station spenden möchte, kann dies hier tun.
Zwei Duschen sind derzeit wegen des Infektionsschutzes außer Betrieb. Ausnahmen soll es nur im Notfall geben, wenn jemand extrem verschmutzt vor der Tür steht. Die Waschmaschinen und Wäschetrockner im Keller laufen wie gewohnt weiter.
Nebenan betreibt die Berliner Stadtmission auch einen Second-Hand-Laden. Für diesen sind Anna-Sofie Gerth und ihr Team allerdings nicht zuständig. Sie sieht in der City-Station nicht zuletzt eine kleine „Einrichtungsgemeinde“ der Berliner Stadtmission, veranstaltet regelmäßig Gottesdienste und hält Seelsorge für einen wichtigen Teil ihrer Arbeit.
Vor dem „Lockdown“ gab es Bibelstunden, Frauen- und Malgruppen, einen „Theaterclub“ und Ausflüge in Museen. „Früher waren wir auch gemeinsam bei der Berlinale und bei kostenlosen Konzerten“, erzählt die Leiterin. Jetzt sei Einsamkeit zu einem großen Problem der Klientel geworden. Darüber hinaus beobachtet Anna-Sofie Gerth eine „Re-Traumatisierung alter Leute, die Nöte noch aus Kriegszeiten kannten“.
Gerth, 32 Jahre alt, wuchs in Hannover auf und kam vor zehn Jahren nach Berlin, um an der Evangelischen Hochschule in Zehlendorf und am Wichern-Kolleg des Evangelischen Johannesstifts in Spandau zu studieren. Sie lernte Sozialarbeit, wurde Diakonin und begann ihre Arbeit für die Stadtmission in der Notübernachtung für Obdachlose, die zum „Zentrum am Hauptbahnhof“ an der Lehrter Straße gehört. 2016 machte Anna-Sofie Gerth in der damals noch von Dieter Puhl geführte Bahnhofsmission am Zoo weiter und führte das dazugehörige „Hygienecenter“. Zwei Jahre später wurde ihr die Leitung der City-Station angeboten. Einen wesentlichen Unterschied zur Bahnhofsmission sieht sie darin, dass diese in keinem Wohngebiet liegt, während die Halenseer Einrichtung „im Kiez verankert“ sei.
Unser Bild stammt von Andreas Schmidt, der neben seiner beruflichen Tätigkeit als Fotograf auch seit sechs Jahren zu den ehrenamtlichen Helfern der City-Station gehört.
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: cay.dobberke@tagesspiegel.de