Nachbarschaft

Veröffentlicht am 04.06.2021 von Sophie Rosenfeld

In Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es insgesamt 114 Kleingartenanlagen, auf 300 Hektar verteilt. Auf der Kudowastraße Ecke Charlottenbrunner Strasse gehören 47 Parzellen zur Kleingartenkolonie Paulsborn-Kudowa e.V., die 1950 entstand. Den Vorstand stellen vier Koloniemitglieder. Eine von ihnen ist Annette Reinecke. Sie ist seit 2005 Schatzmeisterin und hat sich mit ihren drei Kindern sooft es ging auf ihrer Parzelle aufgehalten. Ihre 200 Quadratmeter große Pachtfläche schmücken ein schönes rotes Holzhäuschen, Blumen, Gemüsepflanzen und Obstbäume. Im Winter bleibt am Boden auch mal absichtlich ein Laubhaufen – aber warum? Was passiert wohl unter der Naturdecke? Im Gespräch verrät sie ihre Gartentipps.

Kleingärten gelten als Ruheoase. Für die, die einen Kleingarten haben, hat sich durch Corona aber so gut wie gar nichts geändert, findet Annette Reinecke, „weil wir Pächter:innen sowieso unseren Ruhepol im Garten haben und den ja auch nach getaner Arbeit immer so genießen.“ Ihre drei Wochen Sommerurlaub 2020 hat sie nicht im Garten verbracht, sondern aufgespart. „Der Garten ist die Konstante, die man immer zu versorgen und zu pflegen hat. Wenn man dann im Laufe des Jahres sieht: da blüht was, da geht was ein, da pflanze ich mal was Neues, das ist tatsächlich vom Corona unabhängig, würde ich sagen. Der Blick von außen auf uns, der ist seitdem ein anderer.“ Was nun als Vorteil gilt, sahen viele vorher als Nachteil: Man muss sich konstant um den Garten kümmern. Will man das? Kann man das?

Um die Coronakrise zu überstehen, sieht sie einen Kleingarten nicht unbedingt als Lösung, schließlich hängt da viel dran – Verpflichtungen und Anforderungen an die Lust am Gärtnern. „In der Gartenkolonie haben wir eigentlich immer das gleiche gemacht, da kann um uns herum fast die Welt untergehen. Die Frage ist, ob die Leute, die jetzt auf den Wartelisten stehen auch wissen, was das Pachten eines Gartens bedeutet.“ Die Bewerber:innen-Liste war jedenfalls schon vorher lang. Diese Kolonie hat nun einen Aufnahmestopp, um den Bewerbern keine unrealistische Illusion auf eine Parzelle zu vermitteln. Dass Berlin mehr Kleingärten braucht, sei bekannt. Sie machen den Charme der Stadt und vielerorts ein besseres Klima durch Kälteschleusen der angrenzenden Kieze in aus: „In London oder Paris gibt es sowas gar nicht“, merkt Reinecke an. „Statt Freunde nur zum Grillen einzuladen, könnte man seine Gartenfläche auch teilen und gemeinsam bepflanzen und pflegen. Bringt nochmal ein paar mehr Menschen in die Natur.“

Annette Reinecke pachtet ihren Garten seit 2004 und ist froh, wie immer ihren Ruhepol im Grünen zu haben. Viele sehen es seit Corona als Privileg, die vermuten aber ausschließlich einen Spaßfaktor. „Auch wenn man den Garten betritt und denkt: Oh, ist heute wieder viel zu tun! weiß man genau, es ist irgendwann erledigt“, sagt Reinecke. „Dann setzt man sich hin und das Glücksgefühl setzt ein, weil man direkt sieht, wo man Hand angelegt hat – das ist nichts Abstraktes. Im wahrsten Sinne des Wortes, etwas sehr Bodenständiges.“

Die Gartenkolonie Paulsborn-Kudowa hat nun auch zwei Honigbienenstöcke. Darüber sind alle Kleingärtner:innen sehr glücklich, obwohl der Weg dorthin kein leichter war. „Wir haben alle mehr Ernte, also die Obstblüten werden gut durch unsere Bienen und Insekten bestäubt – zumindest bei mir. Das ging aber nicht wie Butter durch die Jahreshauptversammlung vor vier Jahren. Da mussten wir im Vorstand gemeinsam mit allen positiv gestimmten Pächter:innen kämpfen, denn einige Koloniemitglieder mit Allergien oder Vorurteilen waren sehr skeptisch. Aber jetzt finden es alle toll. Es ist hier wie immer und überall: Veränderungen verbreiten ja häufig erstmal Angst und Schrecken. Das mit den Bienen war ein Experiment, wozu es aber auch die engagierte Pächterin und Bienenliebhaberin wie Andrea Richter-Reichhelm geben musste.“

Auf deren Parzelle fühlen sich die zwei Bienenstöcke zu Hause. Richter-Reichhelm erzählt, laut Reinecke, leidenschaftlich und kompetent von ihren Bienen und der Notwendigkeit für ihren Lebensraum, auch mal eingeladenen Kita-Gruppen oder interessierten Anwohnern auf Sommerfesten. Reinecke weiter: „Im letzten Jahr konnte Andrea bei einer Ausschreibung für ein senatsgefördertes Wildbienenprojekt für unsere Kolonie einen Zuschuss gewinnen. Das war für alle Pächter auch leichter, weil Wildbienen eine eigene Spezies sind und als Einzelgänger nicht ausschwärmen. Das Wildbienenhotel, das der Senat durch den Projektantrag gefördert hat und seit Ende 2020 auf der Vereinsparzelle steht, wird von den Wildbienen auch schon gefunden.“

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir über unser einheimisches Obst reden, hänge an einem seidenen Faden, betont Annette Reinecke. „Ohne natürliche Bestäuber werden Äpfel und Birnen zukünftig so kostbar wie Kaviar sein. Der Kreislauf, der mit den Bienen angestupst wird, ist wichtig und da kann man mit einem kleinen Stück Natur den Tieren, die es nötig haben, eine kleine Arche Noah bieten“, was sie als ehemalige Praktische Tierärztin besonders schätzt. Ihre Promotionsparty hat sie damals auch im Garten gefeiert. Die ganze Kolonie war eingeladen.

Für einen tierfreundlichen Garten hat sie gleich mehrere Tipps: „Was Insekten, Vögel, Kleinsäuger und Nützlinge brauchen, sind keine Immergrün, traurige Thuja, englischer Rasen oder Kirschlorbeerhecken, sondern eine Vielfalt an Blühpflanzen, die Nektar für unterschiedliche Insekten mit langem Rüssel oder kleinen Beinchen spenden. Je blühender, desto besser – das ganze Jahr über. Man fängt an mit Tulpen, Krokussen, Maiglöckchen. Da gibt’s dann zwar noch nicht so viele Insekten aber wenn man über das Jahr hinweg immer was hat, z.B. auch wilden Wein für Wespen, die auch wichtig für die Nahrungskette anderer Lebewesen sind, ist das klasse.

Für die Wildbienen ist Wildkraut wichtig. Da gibt es auch blühende Sorten, die man als Inseln gut auf jeden Rasen säen kann. Nicht jedes Gänseblümchen gleich wegmähen, ruhig mal das Bild vom gepflegten Garten aufweichen und öffnen für bunte Randbepflanzungen über die Schnittkante hinaus. Laut Bundeskleingartengesetz sind 30 Prozent einer Parzelle für den Anbau essbarer Pflanzen zwingend vorgesehen. Daran muss sich jeder halten – das macht ja auch Spaß. Die verbleibenden 70 Prozent der Fläche bieten Spielraum für die Saat von sogenanntem „Bienenfutter“, Schmetterlingsflieder und vielen weiteren insektenfreundlichen Pflanzen.“ Damit sich Igel oder Haselmäuse verstecken können, rät Frau Reinecke auch mal über den Winter einen Laub- und Gestrüpphaufen übrig zu lassen. Für das Überleben unter einer schützenden Naturdecke. Ihr Igel kommt jedes Jahr wieder. „Nistkästen oder Fledermauskästen aufhängen. Neben dem Planschbecken für die Kinder auch an Vogeltränken denken. Kleine Gesten, die für die Tiere eine Menge bedeuten.“

Auf die Frage, wo sie sich vom Alltag erholen würde, wenn sie keinen Garten hätte, antwortet Reinecke mit Erinnerungen an Ausflüge in Parks oder zu Spielplätzen mit ihren Kindern. „Es war auch schön, immer unterwegs zu sein, hält einen ja auch offen und mobil. Durch das Tempelhofer Feld hat sich in Berlin nochmal viel getan. Einen Fixpunkt wie den eigenen Garten zu haben ist natürlich was ganz Tolles. Mit seinen eigenen Pflanzen fühlt man sich sehr verbunden. Im Park hat man mehr Kontakt zu anderen Menschen und fühlt keine Verantwortung für die gärtnerische Qualität des Bewuchses – das entspannt uns Laubenpieper enorm. Das sind zwei völlig verschiedene Konzepte.

Die Spießbürgerlichkeit, die man einem Kleingarten nachsagt, gehört zunehmend der Vergangenheit an. In unserer Kolonie haben wir inzwischen eine große Vielfalt an Pächtern unterschiedlichster Herkunft oder Alter, waren sogar mal kinderreichste Kolonie Berlins! Das Essen aus eigener Ernte als Krönung ist nice to have, aber gar nicht mein einziges Ziel. Eher die Entspannung nach der Arbeit, das Miteinander in der Gemeinschaft und die Gestaltung, Schutz und Beobachtung der Natur.“

  • Foto: privat
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