Nachbarschaft
Veröffentlicht am 21.01.2022 von Cay Dobberke
Viele Kurzgeschichten finden wenig Beachtung in der Literaturwelt. Sie erscheinen üblicherweise in Sammelbänden – und immer seltener in Zeitungen oder Zeitschriften. Ganz anders macht es Patrick Sielemann. Speziell für Kurzgeschichten hat er das Magazin „Das Gramm“ gegründet. Jede Ausgabe enthält nur eine einzige. Darin will Sielemann „auch Leute ansprechen, die nicht so viel lesen.“ Das Ziel für das erste Jahr sei erreicht, sagt er. Die Zahl der Abonnent:innen stieg seit Anfang 2021 auf rund 2000.
Hauptberuflich arbeitet der 39-Jährige als Lektor für deutschsprachige Literatur beim Schweizer Verlag Kein & Aber. Er wurde in der Schwarzwaldregion geboren und lebte später nahe Frankfurt am Main. In Mainz studierte er Literaturwissenschaften und Philosophie. Nach einem Job in einer Literaturagentur, die Autoren an Verlage vermittelt, wohnte Sielemann für seine Lektorentätigkeit zwölf Jahre lang in Zürich.
Weil seine Frau aus Berlin stammt, zog er im Frühjahr 2021 mit ihr und zwei Kindern in den Kiez um die Wilmersdorfer Güntzelstraße und arbeitet nun von hier aus für Kein & Aber. Das Magazin ist sein persönliches Projekt. Der Verlag ist daran nicht beteiligt. Allerdings „befruchten sich die beiden Engagements gegenseitig“, sagt Sielemann. Er bat „Autorinnen und Autoren, die ich schätze“ um Beiträge.
„Man rennt offene Türen ein“, stellte er fest. Es gebe wenig Möglichkeiten, Kurzgeschichten auf den Markt zu bringen. Sielemanns Magazin enthält nur Texte, die eigens dafür geschrieben wurden oder bisher unveröffentlicht waren. Manche der Geschichten gelangten später in Erzählbände verschiedener Verlage. Inzwischen muss Sielemann nicht mehr immer selbst nach Autorinnen und Autoren suchen. Viele senden ihm Manuskripte von sich aus zu.
Inhaltlich sei er für vieles offen, sagt der Herausgeber. Wichtig ist ihm nur, dass die Geschichten „zugänglich“ sind und von einem „übergeordneten Thema“ handeln. Beispielsweise geht es in einer Erzählung darum, wie sich Frauen für Benachteiligungen im gesellschaftlichen Leben rächen. Eine andere Kurzgeschichte handelt von Ausgrenzung. Eine Frau macht Schwangerschaftsgymnastik in einem Kurs, bis dessen Teilnehmerinnen empört feststellen, dass sie allem Anschein nach gar nicht schwanger ist. In einer Erzählung spielte auch der Klimawandel eine Rolle.
Für den Magazinnamen „Das Gramm“ gibt es zwei Gründe. Zum einen findet Sielemann, das Heft sei wie das Gramm „eine kleine Einheit“. Tatsächlich hat es in der Regel nur rund 20 Seiten in einem 15 Zentimeter hohen und zehn Zentimeter breiten Format. Außerdem stammt das Wort „Gramma“ aus dem Griechischen und bedeutet „Geschriebenes“.
Alle zwei Monate erscheint eine neue Ausgabe. Das Magazin ist ausschließlich über die Webseite dasgramm.de in einem Jahresabo erhältlich, das inklusive Versand 30 Euro kostet. Ein Vertrieb über Buchhandlungen wäre unwirtschaftlich, weil diese eine Marge von mindestens 40 Prozent für sich beanspruchen würden, sagt Sielemann. Er verdiene nichts an seinem Projekt. Immerhin „trägt es sich inzwischen finanziell“. Für die Gründung hatte er mehr als 9000 Euro in einer Crowdfunding-Kampagne gesammelt.
Vor allem aber macht ihm alles viel Spaß. Eigene Geschichten schreibt Sielemann allerdings nicht. „Dafür fehlt mir die Fantasie.“ Im März kommt das nächste Heft heraus. Die Kurzgeschichte „Abendbrot“ stammt von der Berliner Schriftstellerin Judith Hermann und handelt von zwei Frauen, die sich mit ihren erwachsenen Söhnen zum Abendessen treffen. „Die Kinder sind da, aber keine Kinder mehr“, heißt es in einer Beschreibung. „Die Frauen kämpfen, doch es sind neue Schlachten.“ Es gehe um „Verbindungen, die unser Leben zusammenhalten“.
Alte Ausgaben des Magazins können nicht nachbestellt werden, weil Sielemann immer nur eine zur Abonnentenzahl passende Auflage drucken lässt. E-Book-Ausgaben plant er nicht, weil für ihn die Haptik eine Rolle spielt. „Ich mag es, wenn man Hefte in der Hand hat.“ Dafür verwende er auch „ein schönes Papier“.
Die Leserschaft verteilt sich auf den ganzen deutschsprachigen Raum. Besonders in der Weihnachtszeit konnte Sielemann anhand unterschiedlicher Bestell- und Lieferadressen erkennen, dass die Magazin-Abos ein beliebtes Geschenk sind. Positive Rückmeldungen erhält er vor allem online über Instagram. Auf längere Sicht hofft Sielemann, einen Sponsor für einen eigenen Kurzgeschichten-Wettbewerb zu finden. Bisher gebe es in diesem Bereich nur wenige Literaturpreise, sagt er.
In seinem Kiez mag Sielemann das „Unaufgeregte“. Um die Güntzelstraße herum sei es ruhig, obwohl man sich mitten in der Stadt befinde. Besonders gut gefällt ihm der Leon-Jessel-Platz, den eine Nachbarschaftsinitiative seit vielen Jahren pflegt. Als „eine der besten Buchhandlungen in Berlin“ lobt er Ferlemann und Schatzer in der Güntzelstraße. Dort „findet man auch das Buch, nach dem man nicht gesucht hat“ – ganz ähnlich wie bei seinem besonderen Modell des Literaturvertriebs.
- Foto: Cay Dobberke
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