Nachbarschaft

Veröffentlicht am 18.02.2022 von Cay Dobberke

Niemand hätte sich bis zur deutschen Einheit träumen lassen, dass die bekannteste Comiczeitschrift der DDR in den Westen umzieht – und dort sogar gut ein Drittel ihrer Leserschaft findet. Seit nunmehr 30 Jahren wird „Mosaik“ mit den Abenteuern der „Abrafaxe“ in einer Villa in Westend gezeichnet. Die Hefte sind klein, aber der Erfolg ist groß. Darüber freuen sich der heutige Geschäftsführer Klaus Schleiter (links im Bild) und der langjährige künstlerische Leiter Jörg Reuter.

Mit einer Auflage von aktuell 75.000 Exemplaren hat sich Mosaik in Deutschland zum Marktführer entwickelt und das Micky-Maus-Magazin überholt. Jeden Monat erscheint eine neue Ausgabe. Auffällig ist das nur 24 Zentimeter hohe und 17 Zentimeter breite Format – deutlich weniger als eine DIN-A4-Seite. Alles begann 1955 mit den drei koboldähnlichen Figuren der „Digedags“, die der Grafiker Hannes Hegen in Ost-Berlin erfand und zeichnete.

1974 zerstritt er sich jedoch mit dem Verlag Junge Welt, der Mosaik damals herausgab. Zu den Gründen gibt es unterschiedliche Vermutungen. Eine davon lautet, dass Hegen nicht mehr so viel zeichnen wollte. Der Verlag machte ohne ihn weiter, hatte aber nicht die Rechte an den längst berühmten Digedags.

Zu ihren Nachfolgern wurden die ähnlichen Abrafaxe namens Abrax, Brabax und Califax. Die größte Herausforderung folgte mit der Abwicklung des Verlags in der Wendezeit.

Durch „reinen Zufall“ sei er damals auf Mosaik aufmerksam geworden, erinnert sich der heutige Herausgeber Klaus Schleiter. Er hatte die Comics vorher nicht gekannt und betrieb in Westend eine Werbeagentur. Der Unternehmer und seine Geschäftspartnerin Anne Hauser-Thiele trafen sich mit dem Verlagschef. Dabei erfuhren sie, dass dieser die Hefte „westfähig machen“ wollte. „Das haben wir ihm ausreden können“, sagt Schleiter.

Obwohl es nach seiner Kenntnis keine finanziellen Probleme gab, wollte ein Rechtsanwalt den Verlag und damit auch Mosaik im Auftrag der Treuhand liquidieren. Schleiter und Hauser-Thiele waren „begeistert von der zeichnerischen Qualität“ der Heftreihe, übernahmen sie und gründeten den „Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag“. Dieser Name sollte Verwechselungen mit einem westdeutschen Esoterik-Magazin vermeiden, das ebenfalls Mosaik hieß.

Aus Berlin-Mitte zogen die Zeichnerinnen und Zeichner um in die Lindenallee in Westend. Das Erdgeschoss der Villa hatte bis dahin Schleiters Werbeagentur gedient. Deren Team wurde in den neuen Verlag integriert. Zusätzlich konnten die oberen Etagen genutzt werden, weil eine Tischlerei darin geschlossen hatte.

Dort richtete Schleiter auch seine Wohnung ein. Er ist jetzt 72 Jahre alt. Doch die Geschäftsführung, die er sich weiterhin mit Anne Hauser-Thiele teilt, macht ihm nach wie vor viel Freude. Der Verlag hat inzwischen rund 20 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Alle sind festangestellt, was in der Comicbranche ungewöhnlich ist.

Jörg Reuter arbeitet schon seit 1980 für Mosaik. Der 62-jährige künstlerische Leiter stammt aus Friedrichshain. Zusammen mit einem Autoren entwickelt er die Geschichten, über die auch in Redaktionskonferenzen beraten wird. Außerdem zeichnet Reuter an einem Computer mit einem Grafiktablett die sogenannten Aufrisse. Diese dienen weiteren Zeichnern und Zeichnerinnen der „Abrafaxe“ als Grundlage für verfeinerte Bilder.

Jede Haupt- oder Nebenfigur in den Comics ist fest einem Teammitglied zugeordnet. Dies soll gewährleisten, dass die einzelnen Charaktere über viele Seiten hinweg immer gleich aussehen.

Nicht nur technisch habe sich seine Tätigkeit verändert, erzählt Reuter. Inhaltlich „konnten wir manches früher so nicht bringen“. In den DDR-Zeiten sei bei Mosaik zwar keine Zensur spürbar gewesen, aber „ich hatte eine eigene Schere im Kopf“. Allerdings seien die Hefte in der Regel unpolitisch gewesen und hätten „keine Jubelgeschichten“ über den Sozialismus enthalten.

Die Dachzeile „Mit den Abrafaxen durch die Zeit“ auf der Titelseite beschreibt das Konzept treffend. Abrax, Brabax und Califax sind in vielen Ländern der Welt unterwegs, und zwar immer in der Vergangenheit. Darin könne die Leserschaft „mehr träumen“, findet Reuter. Im Gegensatz dazu spielen beispielsweise die meisten Stories im Micky-Maus-Magazin in der Gegenwart.

Eine weitere Besonderheit sind die 16 redaktionellen Magazinseiten in jedem Heft, auf denen die wechselnden Länder, historische Zusammenhänge und vieles mehr erklärt werden. Für die Comics stehen jeweils 36 Seiten zur Verfügung. Die Geschichten sind meistens aber noch länger und können sich über zahlreiche Hefte erstrecken. Seit einigen Monaten erleben die Abrafaxe ihre Abenteuer zum Beispiel „in der Welt von 1001 Nacht“, also dem Arabien vor langer Zeit.

Im März erscheint das 555. Mosaik-Heft nach der heutigen Zählweise, die mit den Abrafaxen begann. Die vorherigen 229 Hefte mit den Digedags sind darin nicht eingerechnet. Das Schnapszahl-Jubiläum feiert der Verlag mit einer Verlosung. Jedes Heft enthält dafür eine individuelle Nummer. Wer gewinnt, darf als Comicfigur in einer der nächsten Ausgaben mitspielen. Die insgesamt fünf Ausgelosten sollen dafür ein Foto einsenden, aber auch ihre Hobbys nennen, weil diese eine Rolle in den Geschichten spielen werden.

Als weibliche Ergänzung zu den Abrafaxen existiert seit rund 14 Jahren die Reihe „Anna, Bella und Caramella“ in zusätzlichen Mosaik-Heften. Darin geht es oft um berühmte Frauen wie Frida Kahlo, Marie Curie oder mutige Pilotinnen aus den frühen Jahren der Luftfahrt.

E-Book-Ausgaben gibt es nicht. Klaus Schleiter und Jörg Reuter haben die Erfahrung gemacht, dass die Leserinnen und Leser „etwas in der Hand halten wollen“. Außerdem wären Comics zumindest auf Smartphones nur „Augenpulver“, findet Reuter.

Ein Schritt ins digitale Zeitalter wurde auf andere Weise gemacht. Eine Mosaik-App zeigt Videos und andere Zusatzinformationen, wenn man die Kamera eines Smartphones oder eines Tabletcomputers auf gekennzeichnete Heftseiten richtet. In den Videos bietet Mosaik oft Blicke hinter die Kulissen an. Das Team des Zeichenstudios erklärt, wie ein Comic entsteht.

Die Coronakrise hat Mosaik bisher gut überstanden. Der Verkauf im Bahnhofshandel sei zwar infolge der gesunkenen Fahrgastzahlen „eingebrochen“, sagt Schleiter, doch gleichzeitig hätten mehr Leute die Hefte abonniert.

  • Foto: Sven Darmer
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