Nachbarschaft
Veröffentlicht am 16.09.2022 von Cay Dobberke

Pfarrer Martin Germer scherzt gerne, die evangelische Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche auf dem Charlottenburger Breitscheidplatz sei ihm quasi „in die Wiege gelegt worden“. Damit spielt er auf sein Geburtsjahr 1956 an, in der Streit um den Abriss oder die Erhaltung der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Kirche voll entbrannt war. Als Kompromisslösung blieb die Turmruine als Mahnmal für den Frieden stehen, während der Architekt Egon Eiermann die 1961 eingeweihten Neubauten gestaltete. Später gehörten die häufigen Sanierungen zu Martin Germers Hauptaufgaben.
Nach 17 Jahren als Pfarrer der Gedächtniskirche geht er nun in den Ruhestand. Die Gemeinde und die evangelische Landeskirche verabschieden ihn im Gottesdienst am Sonntag, 25. September, um 18 Uhr. Der Eintritt ist frei, nur für den anschließenden Empfang wird um eine kostenlose Anmeldung gebeten.
Doch Germer hört nicht ganz auf. Er bleibt der Beauftragte für die Sanierung des Berliner Wahrzeichens und zieht dafür in ein kleines Büro in einem Nebengebäude um. In der Stiftung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche macht er ehrenamtlich als geschäftsführender zweiter Vorsitzender weiter – und hofft, dass später genug Geld da ist, um einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für die Geschäftsführung anzustellen.
Die bröckelnden Betonwaben mit den blauen Gläsern und weitere Schäden im denkmalgeschützten Ensemble sind eine Daueraufgabe. Durchschnittlich alle 15 Jahre seien Sanierungen nötig, schätzt Germer.
So soll es aber nicht immer weitergehen. Am eingerüsteten neueren Glockenturm, von dem schon 2014 ein paar Betonstücke herabgefallen waren, werden andere Fassadenteile erprobt. Ein Musterelement wurde vor Kurzem montiert. Statt rostanfälliger Metallteile enthält es eine Edelstahl-Armierung. Die eigentliche Sanierung beginnt voraussichtlich noch in diesem Jahr und dürfte etwa fünf Millionen Euro kosten.
Alle bisherigen Vorarbeiten am Glockenturm hat die Wüstenrot-Stiftung finanziert. Sie gehört zu den wichtigsten Geldgebern der Gedächtniskirche und bezahlte unter anderem auch eine Renovierung der Kapelle. Aber weder die Mittel der Stiftung noch öffentliche Fördergelder reichen für alles. Deshalb wirbt die Gemeinde um Spenden für das „blaue Glas“. Dies klinge attraktiver als eine Spendensammlung für Beton, findet Germer. Geldgeber:innen für den Glockenturm zu finden, sei schwieriger als der Sanierung der historischen Turmruine vor einigen Jahren.
Germer treibt weitere Projekte voran, von denen er die Gemeinde und die Stiftung während seiner Pfarrerszeit überzeugt hatte. Zum einen soll die Dauerausstellung in der Gedenkhalle des alten Turms in dessen verwaiste erste Etage ausgedehnt werden. Germer will sogar noch höher hinaus und darüber eine Aussichtsplattform schaffen. Das Land Berlin bezuschusst die Pläne mit Mitteln aus der „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW).
Ein Kirchencafé könnte in dem als „Foyer“ bezeichneten Flachbau entstehen, der früher für Sozialarbeit genutzt wurde und aktuell als Corona-Teststelle dient. Eine „Citykirche“ brauche einen Ort für Begegnungen, findet Germer. Seine Idee war vor einigen Jahren an Bedenken der Denkmalschutzämter gescheitert, doch er hält eine einvernehmliche Lösung weiterhin für möglich und will einen neuen Anlauf nehmen.
Dass er sich zum Bauexperten entwickeln würde, ahnte Germer nicht, bis er 2005 sein Amt in der Gedächtniskirche antrat. Er hat weder Architektur noch Städtebau studiert, entdeckte aber sein großes Interesse daran und freut sich, wenn er mit Bauexpert:innen fachsimpeln kann. Darüber hinaus engagiert sich Germer für die Entwicklung der ganzen City West, zum Beispiel als privates Mitglied im WerkStadtForum.
Geboren wurde er in Würzburg, was aber nebensächlich ist, weil seine Eltern mit ihm schon nach Berlin-Zehlendorf zogen, als er sechs Monate alt war. Dort verbrachte er 25 Jahre seines Lebens. Heute wohnt er mit seiner Frau Karin an der Uhlandstraße in Wilmersdorf. Nach dem Abitur studierte Germer evangelische Theologie und absolvierte ein Vikariat. Über weitere Stationen kam er 1990 als Pfarrer in die Wilmersdorfer Auenkirche und übte das Amt 15 Jahre lang bis zum Wechsel in die Gedächtniskirche aus.
Besonders wichtig sind ihm die ökumenische Kooperation mit der katholischen Kirche sowie der interreligiöse Kontakt mit Juden und Muslimen. Umso mehr schmerzte ihn der islamistische Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz im Dezember 2016. Zu Angehörigen der 13 ermordeten Menschen und weiteren Opfern, die teils noch immer unter schweren Verletzungen leiden, pflegt die Gedächtniskirche bis heute Kontakte. Für Germer wurde der Anschlag ein Ansporn, den „christlich-muslimischen Dialog“ noch zu intensivieren.
Regelmäßig besuchte er außerdem Seniorenheime und will dies fortsetzen. Zu Germers Hobbys gehören Bergwanderungen – obwohl es bei einer von diesen zum größten Schicksalsschlag seines Lebens gekommen war. Am Riebenkofel in Kärnten verunglückte 1997 seine erste Ehefrau Heike tödlich. Germer trauerte lange um sie, tröstete sich aber mit dem Gedanken: „Es ist egal, wie lange ein Mensch gelebt hat, entscheidend ist, womit seine Lebenszeit gefüllt war.“ In den gemeinsamen zwölf Jahren habe seine Frau „ein vielseitiges, erfülltes Leben gehabt“.
In der Gedächtniskirche ist Kathrin Oxen vorübergehend die alleinige Pfarrerin. Der Gemeinde fehlte das Geld, um Germers Stelle neu auszuschreiben. Hilfe kommt von der Landeskirche, die ab Oktober Sarah-Magdalena Kingreen als zweite Pfarrerin entsendet.
- Foto: Aubrey Wade
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