Nachbarschaft
Veröffentlicht am 20.01.2023 von Cay Dobberke

„Dieses Haus ist ein Wesen“, sagt die Fotografin Nancy Jesse über die Autobahn-Überbauung an der Schlangenbader Straße in Wilmersdorf. „Man hört den Herzschlag der Schlange.“ Damit meint sie das regelmäßige Gerumpel des Verkehrs aus dem Tunnel, das in manchen Fluren leise zu vernehmen ist. In den 1064 Wohnungen höre man davon aber nichts und könne sich in den oberen Etagen an der Aussicht „vom Fernsehturm bis zum Teufelsberg“ erfreuen.
Mehr als ein Jahr lang war Nancy Jesse mit der Kamera unterwegs in dem 600 Meter langen Wohnkomplex aus den 1970er Jahren. Dieser war wegen des Wohnungsmangels im damaligen West-Berlin über der Stadtautobahn gebaut worden, steht seit Ende 2017 unter Denkmalschutz und ist unter dem Spitznamen „Schlange“ bekannt ist.
Zunächst holte die Fotografin eine Genehmigung der Wohnungsgesellschaft Degewo ein. Und dann besuchte sie zwei hauseigene Kneipen. „Ich habe die Leute einfach angesprochen.“ So kam sie beispielsweise in Kontakt mit einer Ukulele-Musikgruppe und dem Stammtisch einer Fotogruppe. Bald erfuhr Jesse, dass es noch viel mehr gemeinsame Aktivitäten der Mieter:innen gibt.
Nun präsentiert sie die audiovisuelle Ausstellung „Die Schlange“ in der Wohnanlage. Die Fotos sind in Vitrinen zu sehen: Täglich um 16.30 Uhr geht Licht an und es ertönen leise Geräusche, die der Sounddesigner Moritz Hoffmeister aufgenommen hat. Das Projekt gehört zur Veranstaltungsreihe Stadt findet Kunst des Kulturamts Charlottenburg-Wilmersdorf und wird vom bezirklichen Kulturbeirat gefördert.
Manchmal hat sich die Fotografin wie in einem „Raumschiff aus einem alten Science-Fiction-Film“ oder auf einem „Kreuzfahrtschiff im Hafen“ gefühlt. Außerdem fiel ihr auf, dass in den Häusern soziale Einrichtungen für das ganze Leben existieren – von der Kita und einer Montessori-Schule bis hin zum Seniorenheim.
Ihre Bilderserie soll „keine Dokumentation“ sein, sondern „die Atmosphäre einfangen“.
Sie interessiere sich für Orte, sagt Nancy Jesse. Deshalb ging sie etwas anders vor als ihre Kollegin Anne Schönharting, die das Charlottenburger Bürgertum in einem Buch vor allem in Wohnzimmern porträtiert (wir berichteten). Beide kennen sich. Jesse studiert an der Berliner Ostkreuzschule für Fotografie in Weißensee und will im kommenden September ihren Abschluss machen. Schönharting ist Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz, die als Partnerin der Schule fungiert.
Aus einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt kam Nancy Jesse im Jahr 2004 nach Berlin, sie wohnt in der Nähe des Volksparks Wilmersdorf. Auf die Autobahn-Überbauung wurde sie bei einem Kiezspaziergang aufmerksam, den sie zur Entspannung während der Corona-Krisenzeit unternahm.
Als Fotografin machte sich Jesse im Jahr 2016 selbstständig. Zuvor hatte sie ein Studium für internationales Management im öffentlichen Sektor abgeschlossen und in der Deutschen Emissionshandelsstelle des Umweltbundesamts gearbeitet. Ihre Leidenschaft für die Fotografie entdeckte sie während einer Reise nach Indien. Damals hätten ihre Bilder allerdings noch nicht sehr professionell gewirkt, erinnert sich Jesse. Häufig war „mein Zeigefinger im rechten unteren Bild zu sehen“.
Die jetzige Schau ist ihre erste Einzelausstellung. Sie hat sich außerdem schon an Gruppenausstellungen beteiligt sowie mit Partnern zwei Bücher über Architekturschätze und interessante Spaziergänge in Berlin veröffentlicht. Nach ihrem Studium möchte die Fotografin für Magazine arbeiten. Derzeit ist sie auch studentische Hilfskraft in der Kommunalen Galerie Berlin am Hohenzollerndamm und jobbt nebenbei im Wilmersdorfer Kiezkino Eva Lichtspiele als Filmvorführerin. Fotografie und Kino ergeben für sie „eine schöne Mischung“.
Aktuell beschäftigt sich Jesse mit ihrer Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule. Darin geht es um die schottische Insel Eigg, bald reist sie wieder dorthin.
- Die Ausstellung „Die Schlange“ kann bis Ende Januar im Durchgang zum Haus Schlangenbader Straße 16 besichtigt werden. Am Sonnabend, 28. Januar, ab 16.30 Uhr gibt es dort ein Gespräch mit Nancy Jesse, das der Fotograf Oliver Möst moderiert. Außerdem zeigt die Fotografin mehrere Bilder online unter nancyjesse.de/schlange.
- Fotos: Cay Dobberke (1), Nancy Jesse (5)
- Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge an cay.dobberke@tagesspiegel.de.