Nachbarschaft

Veröffentlicht am 10.02.2023 von Cay Dobberke

Was wird aus dem „Mommsen-Eck“? Ende April muss Dagmar Dagustany die seit 1905 bestehende Alt-Berliner Kneipe an der Charlottenburger Mommsenstraße / Ecke Hindemithplatz schließen. Der Vermieter hat den Vertrag der Wirtin gekündigt. Die Bierhähne würden „für immer“ zugedreht, beklagt sie. Der Tagesspiegel berichtete im Checkpoint-Newsletter. Dagegen spricht der Eigentümer der Räume – die Holding des Investors Nicolas Berggruen – nur von einem „Generationswechsel“.

Man verhandele schon mit Bewerbern, um das Lokal weiterzuführen, sagte Unternehmenssprecherin Ute Kien auf Nachfrage. „Wie in den vergangenen rund 120 Jahren mehrfach geschehen, werden einige Modernisierungen erforderlich sein.“ Trotzdem „gehen wir davon aus, dass der Charakter erhalten bleiben kann“. Das alte Mobiliar werde nicht entfernt.

Das klingt anders als die Kritik der Wirtin. „Es gibt Menschen, die den Wert dieses Restaurants nicht schätzen“, schreibt Dagmar Dagustany auf der Webseite des „Mommsen-Ecks“. Der Vermieter habe sich „gegen die Tradition und für die Moderne entschieden“, sagte sie uns beim Gespräch im Lokal. „Das schmerzt extrem.“ Ihr habe niemand gesagt, wie die Räume künftig genutzt werden sollen.

Als „Haus der 100 Biere“ wirbt das „Mommsen-Eck“ für sich. 15 Biersorten werden vom Fass ausgeschenkt. Rund 1300 Flaschen gehören zur Dekoration. Manche Holzvertäfelungen stammen noch aus der 118 Jahre alten Originaleinrichtung. Die Speisekarte bietet vor allem – aber nicht nur – Berliner Spezialitäten wie Buletten, Eisbein, Currywurst, Schweinshaxe, Rinderleber oder „Hoppel Poppel“ aus Bratkartoffeln, Ei, Kasslerfleisch und Gewürzgurke.

An viele prominente Gäste erinnern kleine Messingschilder. Genannt werden beispielsweise Willy Brandt, Wolfgang Gruner, Harald Juhnke, Hildegard Knef, Inge MeyselBrigitte Mira, Ernst Reuter und Otto Sander – sowie der Zeichner Heinrich Zille, dem eine „Zille-Stube“ mit einigen seiner typischen Kiezbilder gewidmet ist.

Die Namen von 77 Berühmtheiten sind online aufgelistet. Einmal habe sie den Sänger Udo Jürgens „persönlich bedienen dürfen“, erzählt Dagmar Dagustany.

24 Jahre lang führte sie den Betrieb gemeinsam mit ihrem Mann, der kürzlich verstorben ist. In Berlin hatten beide zuerst eine Filiale der damaligen Fotoladenkette Photo Porst als Franchisenehmer betrieben, bis sie in die Gastronomie wechselten.

Geschäftlich lief es immer gut. Die Corona-Pandemie überstand das „Mommsen-Eck“ auch dank der zahlreichen Stammgäste. Außerdem gehört es zum Sightseeing-Programm vieler Touristen, die Alt-Berliner Atmosphäre erleben wollen. Besonders beliebt seien der Wintergarten und die Schankterrasse neben dem St. Georg Brunnen, sagt Dagustany. Der Brunnen soll nach einer Sanierung bald wieder sprudeln (wir berichteten).

Bereits vor ein paar Jahren dachten die Wirte daran, allmählich einen Nachfolger zu suchen. Nach der langen Zeit in der Gastronomie und dem Tod ihres Mannes „habe ich auch die Kraft nicht mehr“, sagt Dagmar Dagustany. Im kommenden Mai wird sie 66 Jahre alt. Sie fand einen Gastronomen, der die Kneipe übernehmen wollte, und schlug ihn dem Vermieter vor. Aber die Berggruen-Holding bevorzugt offenbar andere Bewerber.

Sterben die Alt-Berliner Kneipen aus? Erst in der vorigen Woche haben wir über das ehemalige „Gasthaus Wendel“ berichtet. Dessen Geschichte am Richard-Wagner-Platz reicht bis ins Jahr 1919 zurück. Nach einem Brand im Oktober 2021 sah sich der Pächter dazu gezwungen, das Lokal zu schließen. Später habe der Wirt aus wirtschaftlichen und gesundheitlichen Gründen aufgegeben, sagt der Vermieter Dieter Wendel. Voraussichtlich im April eröffne in den Räumen eine „Fahrschule mit einem Café“.

Bereits im Jahr 2020 wurde der „Zillemarkt“ in der Bleibtreustraße für den Neubau eines Bürohauses abgerissen.

Andererseits wurde Charlottenburgs älteste Kneipe, das „Wilhelm Hoeck 1892″, vor rund sechs Jahren gerettet. Nachdem sich der Hauseigentümer an der Wilmersdorfer Straße und eine Pächterin zerstritten hatten, konnte ein neuer Wirt weitermachen.

Zu den historischen Lokalen in Charlottenburg gehört auch das „Diener Tattersall“ an der Grolmanstraße. Es war 1893 als Reitschul-Casino entstanden. Ab 1954 machte der Box-Champion Franz Diener daraus eine Künstlerkneipe. Und an der Xantener Straße in Wilmersdorf besteht seit 1907 das „Xantener Eck“.

Fotos aus urigen Kneipen präsentiert die Kommunale Galerie Berlin am Hohenzollerndamm 174: Dort beginnt am 23. Februar um 18 Uhr die Ausstellung Chez Icke.

  • Fotos: Cay Dobberke
  • Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge an cay.dobberke@tagesspiegel.de.