Intro
von Nele Jensch
Veröffentlicht am 04.04.2019
verkehrte Welt in Kreuzberg, könnte man meinen: Ausgerechnet im wohl politisch grünsten Bezirk der Stadt, in dem viele Bewohner*innen Wert auf Nachhaltigkeit und biologisch korrekt angebaute Lebensmittel legen, protestieren jetzt Menschen für den Erhalt eines Discounters.
Es geht natürlich um den Aldi in der Markthalle Neun, dem gekündigt wurde und der durch eine DM-Filiale ersetzt werden soll. Rund 300 Protestierende, unterstützt von der Xhainer SPD, versammelten sich am vergangenen Samstag vor der Halle in der Eisenbahnstraße (bestes Demo-Schild: „Bei dm kann man kein Bier klauen“). Sie kritisierten, dass die „Halle für Alle“ genau das nicht mehr sei – zu teuer, zu hip sei sie geworden; Rentner*innen und Menschen, die von Sozialleistungen leben, könnten sich die Preise an den Ständen dort nicht leisten.
Die Menschen, die ebendiese Stände betreiben, verstehen nicht, warum sich der Protest für Aldi auch gegen sie richtet. „Anstatt für eine gerechte Sozial- und Ernährungspolitik zu kämpfen, die allen Menschen gute, saubere und faire Lebensmittel ermöglicht, werden Unternehmer wie ich zum Sündenbock für eine verfehlte Politik gemacht“, sagte Hendrik Haase, Gründer von „Kumpel und Keule Metzgerhandwerk“, meinem Kollegen Robert Klages. Haase ist besonders von der SPD enttäuscht: „Die SPD stellt sich in die Reihe derer, die mich allein aufgrund meines Bartes und Hutes zum Hipster-Hassobjekt erklären und die ihre Frustration und Hass gegen alles und jeden richten, der für einen Wandel steht, wie auch immer er aussieht.“
Am Dienstagabend fand auf Einladung der Hallenbetreiber (es handelt sich um drei Männer) ein öffentliches Gespräch statt. 150 Anwohnende, Initiativen und Mitglieder der Xhainer SPD waren dabei (und Kollegin Corinna von Bodisco, die im Tagesspiegel berichtete). Allerdings wurden die Fragen der Besucher*innen nicht beantwortet, sondern nur gesammelt. Eine Anwohnerin drückte ihr Sorgen so aus: „Gerade geht es in der Halle nicht mehr um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Die Kreuzberger Mischung ist schon lange flöten gegangen.“ Wäre die Halle eine Markthalle, „würden wir nicht über den Aldi reden“.
Mittlerweile berichtet auch Spiegel Online über den Disput, dort schreibt Stefan Kuzmany: „Wenn es gegen unsympathische mutmaßliche US-Geld-Schwaben-Touristen geht, kann man sich selbst in Kreuzberg schon einmal mit einem Lebensmitteldiscounter solidarisieren, der die Arbeitsbedingungen vom Hersteller bis zur Kassenkraft dermaßen durchoptimiert, dass bei der 500g-Packung Putenschnitzel für 2,99 Euro immer noch Gewinn hängen bleibt.“ Lebensmittel sind, insbesondere bei Discountern, billig zu haben – den Preis zahlen andere, von den Tieren, Produzent*innen und Lieferant*innen bis zu den Verkäufer*innen vor Ort. So sieht es auch Leute-Leserin Liliane Emnet-Propper, die sich darüber ärgert, dass die Markthalle „kaputt geschrieben“ werde: „Gerade in dieser Markthalle verkaufen regionale kleine Anbieter ihre Produkte, die unterstützungswert sind und nicht mit diesen Grossisten mithalten können. Diese macht man doch dadurch kaputt! Wo bleibt hier der soziale Aspekt?“ Discounter gebe es in Berlin schließlich an jeder Ecke.
Das betonen auch die Betreiber*innen des Nobelrestaurants „Nobelhart & Schmutzig“, die sich in die Debatte eingeschaltet und am Montag eine Mail an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) geschrieben haben: Wirt Billy Wagner sieht die Proteste als Chance, über die Bedeutung von Lebensmitteln und regionalen Produkten zu sprechen. Das Geld müsse an die produzierenden Familien in der Region gehen, schreibt er dem Bürgermeister. Darüber, dass die „Sozialdemokratie zu einem Protest gegen UnternehmerInnen aufruft, die für eine gerechteres und sozialeres Lebensmittelsystem kämpfen und dafür mit ihrer Existenz einstehen“, zeigt sich Wagner erstaunt.
Natürlich handelt die Geschichte nicht nur um einen Discounter und auch nicht nur um die Frage, wie Lebensmittel produziert und zu welchem Preis sie verkauft werden (sollten). „Die Aldi-Schließung ist für viele nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, schreibt Marlene Gürgen in der taz. Kern der Debatte ist, wem die Stadt gehört, für wen sie ist und wie sie sich verändert. Der Streit um Aldi in einem Kiez, der in den letzten zehn Jahren massiv durchgentrifiziert wurde, ist ein Symbol dafür, dass sich immer mehr Menschen das Leben im Herzen Berlins nicht mehr leisten können. Die Aldi-Filiale wirke wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, schreibt Gürgen, nachdem der Drogeriemarkt Drospa und der Textildiscounter Kik aus der Markthalle auszogen, der Trinker-Treffpunkt in der Hallenmitte einem Kaffeestand weichen musste und der Schreibwarenladen in der Eisenbahnstraße von der erkrankten Besitzerin aufgegeben wurde. Um dieses Relikt wird nun gekämpft.
Nele Jensch ist freie Autorin beim Tagesspiegel. Offiziell wohnt sie zwar auf der Neuköllner Seite des Landwehrkanals, aber gefühlt ist die ja schon lange in Kreuzberg eingemeindet. Über Post freut sie sich auch unter leute-n.jensch@tagesspiegel.de