Namen & Neues

Protestzug gegen Verdrängung von der Wiener Straße 22 zur Wrangelstraße 83

Veröffentlicht am 30.07.2020 von Corinna von Bodisco

Gleich zwei Kreuzberger Häuser nördlich und südlich des Görlitzer Parks wurden verkauft, doch die Mieterinnen und Mieter wehren sich. Unter dem Motto „Kreuzberg ist kein Kaufhaus“ zogen etwa 400 Betroffene und Interessierte am Dienstagabend durch den Kiez – mit Unterstützung der Initiativen GloReiche und Bizim Kiez.

Die Rede ist von der Wiener Straße 22/Ohlauer Straße 2 und der Wrangelstraße 83. Von letzterer Hausgemeinschaft „Willi wollt’s anders“ berichtete Nele Jensch bereits im Newsletter: Der verstorbene Besitzer, Willi Kolberg, vermachte seine Häuser eigentlich der Charité und wollte, dass sie gemeinnützig weitergeführt werden. Stattdessen wurde u.a. die Wrangelstraße 83 an die Stiftung Jüdisches Krankenhaus weitergereicht, bevor das Haus für 2,2 Millionen Euro an einen Immobilienspekulanten verkauft wurde.

In einem Offenen Brief (bizim-kiez.de) wandte sich die Hausgemeinschaft vergangene Woche an Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD): „Wir sehen das Land Berlin ganz klar in der Verpflichtung, hier über den Bezirk vom Vorkaufsrecht Gebrauch zu machen“, appellieren die 17 Mieterinnen und Mieter. Sie wohnen zwischen sechs und 43 Jahren im Haus. Der Käufer habe bereits einen Umbau des begrünten Innenhofs angekündigt. Schade wäre es für den schönen Garten und die „wilde Katze Hilde“, die wie mancher Marder oder Fuchs den Hof gerne nutzt. Die Frist für den Vorkauf läuft am 10. August aus.

Fall Wiener Straße 22/Ohlauer Straße 2. Das Eckhaus gegenüber vom Spreewaldplatz wurde laut Recherchen der Initiative GloReiche an die Immobiliengesellschaft einer Schweizer Großbank verkauft. Die Dahme Immobilien GmbH, Käuferin des Hauses, gehöre zur Schweizer Großbank UBS, die wiederum mit der Deutschen Investment Kapitalverwaltungsgesellschaft verzweigt sein soll.

Sucht man im Netz nach den Gesellschaften, fällt auf, dass die Firmensitze in Charlottenburg-Wilmersdorf direkt nebeneinander liegen: Kaiserin-Augusta-Allee 113 (Dahme Immobilien GmbH) und Kaiserin-Augusta-Allee 112 (Berliner Niederlassung der Deutschen Investment Kapitalverwaltungsgesellschaft). Außerdem haben sie denselben Geschäftsführer. Ein Unterschied: Die Dahme Immobilien GmbH führt nur eine Adresse aka Briefkasten, keine Telefonnummer. So hält man sich wohl lästige Fragen vom Hals.

Die Deutsche Investment Kapitalverwaltungsgesellschaft hingegen ist telefonisch erreichbar, eine Sprecherin beantwortet ausführlich alle Fragen. Die Gesellschaft agiere als Treuhänder „für institutionelle deutschsprachige Anleger“, dazu zählen Pensions- und Sparkassen. Auch die Objektgesellschaft Dahme Immobilien GmbH repräsentiere das Vermögen einer Pensionskasse, dessen Investitionen „maßgeblich von einer langfristigen Haltedauer (mindestens jedoch 15-20 Jahre) und einem nachhaltigen, sozialverträglichen und ethischen Ansatz“ geprägt seien. Mit den Gewerbemietenden der Wiener Straße 22 seien bereits vergangene Woche Gespräche („vertrauensbildende Maßnahmen“) über die langfristig gewünschte Weiterführung des Mietverhältnisses geführt worden.

Eiliger Brief für die Mietgemeinschaft. Am Tag meiner Anfrage wurde allen Wohn- und Gewerbemietenden ein Brief eingeworfen („persönlich durch unser Team“), um den „nachhaltigen und langfristigen Ansatz zu untermauern“. Im Brief stellt sich die Treuhandgesellschaft vor und will der Mietgemeinschaft „die Sorge vor diesem Eigentümerwechsel nehmen“. So weit so gut. Ein Satz macht jedoch stutzig: „Wir schätzen die homogen gewachsenen Kieze genauso wie sie“. Homogen ist ein interessantes Wort für einen Bezirk, der gerade für seine Heterogenität, Vielfalt und Diversität bekannt ist.

Mit dem Bezirk befinde man sich aktuell in Verhandlungen über eine Abwendungsvereinbarung, die laut der Gesellschaft besagt: 1. Kein Abriss, 2. Vermietung unter Berücksichtigung der Mietpreisbremse, 3. Vermeidung (nicht Verbot, Anm. d. Red.) von Luxussanierungen, 4. Verbot von Um- und Anbauten.

Fragen: Was passiert, wenn die Kapitalverwaltungsgesellschaft erneut eine (Sub-)Gesellschaft gründet und das Haus weiterverkauft? Was passiert, wenn die Frist von 10 Jahren zur Eigenbedarfskündigung abgelaufen ist?

Übrigens: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Schweiz zahlen ab einem Mindesteinkommen von 21.330 Franken im Jahr in Pensionskassen zwecks der „obligatorischen beruflichen Vorsorge“ ein (ch.ch). Diese Kassen werden wie oben genannt von Treuhandgesellschaften wie der Deutschen Investment verwaltet, die dann mit den Rentenbeiträgen über Subgesellschaften geeignete Immobilien aufkaufen. Egal ob anschließend vermietet oder entmietet wird – für Treuhänder, (Sub-)Verwaltungen und die (Schweizer) Rentenkassen ist die Aussicht auf steigende Immobilienpreise eine Win-Win-Situation.

Was wird aus der Madonna-Bar? Trotz des vertrauensbildenden Gesprächs mit der Treuhandgesellschaft fühlen sich auch die im Haus befindlichen Gewerbe bedroht: das „Tabac & Whisky Center“ und die alteingesessene Kreuzberger „Madonna-Bar“, die es seit 1984 gibt. Falls Sie noch nicht dort waren, unbedingt beim Besuch an die Decke schauen.

Von oben schaut nämlich die Madonna vom 15 Jahre alten Deckengemälde im Barock-Stil auf die Gäste herab, die sich durch 250 verschiedenen Whisky-Sorten probieren können. Madonna-Betreiber Karsten Kirmse fühlt sich vom Verkauf doppelt betroffen: als Mieter und als Gewerbebetreibender. Er befürchtet, dass der Laden schicker werden muss und der Mietvertrag der Madonna nicht fortgeführt wird, läuft dieser in ein paar Jahren aus. Wie lange noch Zeit ist, möchte er nicht genau sagen. „Lang ist es nicht mehr“, sagt er nur.

Vom Verkauf erfahren hat die Mietergemeinschaft erst um den 11. Juli von der Mieterberatungsgesellschaft „asum“ und nicht von der neuen Eigentümerin selbst. Diese kontert: „Derzeit befindet sich der notarielle Kaufvertrag in der Abwicklung, ein wirtschaftlicher Übergang hat bisher noch nicht stattgefunden“. Sie seien offiziell noch nicht wirtschaftlich Berechtigte des Hauses.

Am 11. Juli waren allerdings schon zehn Tage von der zweimonatigen Frist zur Ausübung des Vorkaufsrecht vergangen. Kirmse ärgert sich darüber, dass der Mietergemeinschaft bürokratischer Abläufe wegen wertvolle Zeit „geklaut“ wird, um sich zu wehren. Aktuell prüfe der Bezirk das Vorkaufsrecht, twitterte Stadtrat Florian Schmidt (Grüne). Die Frist für das Eckhaus läuft am 31. August aus.

Resümee über 60 Jahre im Kiez: Christa Hartmann wohnt bereits seit 59 Jahren im Haus und hat zum Anlass des Verkaufs ihre Erinnerungen in einem zweiseitigen Text aufgeschrieben. Hier ein Auszug:

  • „Irgendwie hat sich das eingeschlichen, dass wir uns für vieles in ‚unserem‘ Haus verantwortlich fühlen, um Schaden abzuwenden oder zu begrenzen, sei es ein selbst eingebautes Schloss nach Kellereinbruch, eine Glühbirne auswechseln oder mal die Treppenreinigung übernehmen, wenn Urlaub angesagt war. Für Handwerker waren wir eine Anlaufstelle und luden auch zur Pause in die Wohnung ein. Eine Mieterversammlung in unserer Wohnung brachte das Aus für die zahlreichen Modernisierungsabsichten des neuen Eigentümers, nicht solange danach folgte der nächste Eigentümer, wir haben sie alle überdauert.“

Den ganzen Text können Sie lesen, wenn Sie mein Foto auf Twitter näher zoomen.

 

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