Kiezgespräch
Veröffentlicht am 10.01.2019 von Nele Jensch
Seit 16 Jahren betreibt Hassan Qadri sein Geschäft „Kamil Mode“ am Kottbusser Damm 9 und verkauft Kleidung vor allem an die türkische und arabische Community. Doch auch der einst leicht ranzige Kottbusser Damm auf der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln wird immer mehr aufgehübscht: Restposten-Shops, Apotheken und Bekleidungsgeschäfte müssen gehen, schicke Restaurants und große Einzelhandelsketten ziehen ein. Die Vermietenden machen mit der Gentrifizierung ein gutes Geschäft, auch Qadris Miete wurde bereits zwei Mal erhöht, inzwischen zahlt er 1.200 Euro für 61 Quadratmeter.
Seinem Vermieter Thorsten Cussler scheint das noch nicht zu reichen: Er hat Qadri gekündigt. Informationen der Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez zufolge hat Cussler mit dem Gewerberaum etwas „Schöneres“ vor: Zunächst eine Grundsanierung, dafür müsste „Kamil Moden“ aber ohnehin schließen, danach eine Mieterhöhung auf über 3.000 Euro. Qadri wäre bereit, über eine Mieterhöhung zu verhandeln, Cussler geht darauf jedoch nicht ein – das Geschäft muss raus.
Für den 60-jährigen Qadri ist die Kündigung eine Katastrophe: Sich für die verbleibende Zeit bis zur Rente ein neues Geschäft im Kiez aufzubauen, scheint bei den derzeitigen Mietpreisen und dem Mangel an Gewerbefläche utopisch. Sein Vermieter ließ ihm die Wahl: Qadri hätte offiziell bis Ende März bleiben können, wenn er eine Zwangsvollstreckungsunterwerfung unterschrieben hätte. Das bedeutet, dass sein Vermieter schneller hätte räumen lassen können, wenn Qadri den Laden nicht fristgerecht abgeben hätte. Diese Vereinbarung wollte der Ladenbetreiber jedoch nicht unterschreiben, weshalb er eigentlich bereits zum 31.12.18 sein Geschäft hätte räumen müssen. Das tat er nicht – und der Verkauf geht weiter.
„Die Familie Qadri hat sich entschieden, zu bleiben, der Laden ist damit jetzt quasi besetzt“, sagt Swenja Ritchie von OraNostra, einer Initiative, die aus dem Zusammenschluss von Gewerbetreibenden in der Oranienstraße entstanden ist. Die Miete sei überwiesen worden, der Vermieter habe sich bisher zu dem Verbleib der Qadris nicht geäußert. Ritchie weist auf Artikel 14 des Grundgesetzes hin. Darin heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Und weiter: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“ Durch die Weigerung Cusslers, mit den Qadris über einen Verbleib an ihrem Standort auch nur zu verhandeln, sieht Ritchie ebendieses Wohl bedroht.
Parallel wird mobil gemacht: Im Dezember fand eine Protestkundgebung vor Kamil Mode statt. Auf change.org haben bereits mehr als 1.000 Menschen eine Petition unterschreiben, in der Qadris Vermieter aufgefordert wird, die Kündigung zurückzunehmen; auch in Geschäften im Kiez liegen Unterschriftenlisten aus. Neben Bizim Kiez und OraNostra setzen sich auch andere Kiezinitiativen wie Kotti&Co und das Bündnis „Zwangsräumung verhindern!“ für „Kamil Mode“ ein.
Sogar die Politik hat sich eingeschaltet: In der BVV am 12. Dezember wurde mit großer Mehrheit eine Resolution der Grünen verabschiedet, die den Erhalt von „Kamil Mode“ am Kottbusser Damm 9 fordert (wir berichteten). Der Xhainer Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser (Linke) hat einen Brief an Vermieter Cussler geschrieben, in dem er sich für den Verbleib des Ladens einsetzt. Und auch die Xhainer Direktgewählte Canan Bayram (Grüne) hat sich an Cussler gewandt, ebenfalls postalisch, und ihn zu einem Gespräch in den Bundestag eingeladen haben, um über Kamil Mode zu sprechen. In ihrem mir vorliegenden Brief appelliert Bayram an Cussler, seine Entscheidung, dem Laden zu kündigen, noch einmal zu überdenken. Bayram argumentiert, dass Kamil Mode „im Gegensatz zu den bereits zahlreich am Kottbusser Damm vertretenen Gastronomiebetrieben eine echte Marktlücke“ fülle; ein Verlust des Geschäfts wäre auch ein Verlust für die Vielfalt in Kreuzberg. Bisher habe Cussler nicht auf ihren Brief reagiert, sagt Bayram. Auch für den Tagesspiegel war Cussler weder telefonisch noch per Mail zu erreichen.
Der Fall von Familie Qadri ist ein Beispiel für einen Aspekt der Gentrifizierung, über den bisher wenig gesprochen wird: Die (post)migrantische Community leidet schon deutlich länger unter dem zunehmenden Verdrängungsdruck als biodeutsche Mittelstandsfamilien. „Hassan Qadri ist vor 16 Jahren aus Pakistan nach Berlin gekommen, seine Frau Joanna stammt aus Polen. Sie haben hart gearbeitet, um sich einen Kundenstamm aufzubauen und ein Auskommen zu finden. Der mangelnde Gewerbemietschutz treibt Migrant*innen in Hartz 4“, so Ritchie von OraNostra. „Wie soll Integration so gelingen?“ Menschen aus dem migrantischen Milieu würden sich häufig kaum gegen Verdrängung wehren, erklärt Ritchie: Mangelnde Sprachkenntnisse und wenig Wissen über die eigenen Rechte machten sie zu leichten Gentrifizierungsopfern. Die Qadris hingegen sind entschlossen, für ihren Laden zu kämpfen, der für sie ein Stück Heimat ist. Er ist übrigens nach ihrem Sohn Kamil benannt.