Nachbarschaft

Veröffentlicht am 02.11.2017 von Robert Klages

„Der Aufstand kommt so oder so“, heißt das neue Buch von Clemens Schittko, erschienen im „Gonzo Verlag“. Es beinhaltet zwei Langgedichte, Monologe, experimentelle, avangardistische Lyrik, wie sie vielleicht nur Friedrichshain hervorbringen kann. Der 38-Jährige ist hier geboren und hat sein ganzes Leben im Kiez verbracht, 12 Jahre davon am Boxhagener Platz. Vor einem halben Jahr haben sie ihm dort zum ersten Mal die Miete erhöht, erzählt er bei einem Tee (er ist erkältet) im Café Tasso, Karl-Marx-Allee. Zwar übernimmt das Jobcenter die Mieterhöhung von 80 Euro, aber er regt sich trotzdem darüber auf.

Er sei nur Lyriker, damit er nicht Arbeitsloser genannt werde, hat der Deutschlandfunk mal über ihn geschrieben. Da ging es um sein vorheriges Werk „Ein ganz normales Buch“, erschienen im Greifswalder „Freiraum Verlag“. Im Deutschlandfunk heißt es weiter: „Klar, direkt und auf den Punkt – Clemens Schittko streckt der Welt den Mittelfinger entgegen: Der Literaturbetrieb, die Massenmedien, Politiker, und immer wieder das ‚Schweinesystem‘, der Kapitalismus als Grundübel der Menschheit, Schittko klagt sie alle an.“ Das Wort „Schweinesystem“ kommt in seinen Texten allerdings nicht vor.

„Friedrichshain ist literarisch tot“, sagt Schittko und hustet in seinen Pfefferminztee. „Es gibt nur noch Kneipen zum Fressen und Saufen. Das war früher anders. Da wurde in den Bars mehr Kultur geboten, mehr Projekte, mehr alternative Veranstaltungen.“ Man merkt ihm an, wie ihn das richtig ankotzt. In den letzten fünf Jahren habe ich acht Mal mit ihm zusammen gelesen, bei diversen Literaturveranstaltungen in Berlin. Er hat mir Paulus Böhmer nähergebracht, wofür ich ihm immer noch dankbar bin. Ich persönlich halte ihn für einen der interessantesten Lyriker Deutschlands – auch, oder gerade, weil es keine Lyrik ist, was er da macht:

sag, was du zu sagen hast

sag, wer du bist

und sag vor allem, was du wirklich willst

wovon bist du abhängig?

wer bezahlt dich?

wie hoch ist dein Preis?

ab welcher Summe vergehst du Verrat?

und dann sag Klasse, Bewusstsein und Utopie

sag immer wieder: soziale Frage und neuer Mensch

wir brauchen ein zweites Achtundsechzig

wir brauchen Aufstände und Umstürze und Anarchie

Sätze wie diese liest er stoisch und kantig vor. Und er wird sie auch in 20 Jahren noch vorlesen, irgendwo in versteckten Bibliotheken oder „Underground-Bars“. Berühmt wird er nicht werden, einen wie ihn kann man nicht vermarkten. Einer wie er, der passt nicht rein in die Kulturindustrie, der passt eigentlich nirgendwo besser hin als nach Friedrichshain. Ich bin mir nichtmal sicher, ob ich ihn mir in Kreuzberg vorstellen könnte. „Da ist es halt anders. Irgendwie ist da immer noch ein Bruch, die Spree ist halt dazwischen“, sagt er selber. „Da gibt es auch mehr Multi-Kulti. In Fhain wohnen ja fast nur Weiße.“ Friedrichshainer Gemecker könnte man meinen. Von einem, der nicht so schnell wegziehen wird und trotzdem immer was auszusetzen hat am Kiez: „In Friedrichshain ist sehr wenig Grün, also um den Boxi. Dafür, dass die Grünen hier die Bürgermeisterin stellen ist das schwach.“

Seine Oma hat da eine Theorie: Sie sagt, die beiden Bezirke wurden 2001 nur zusammengelegt, um die Linken im Osten zu schwächen. Seine Oma war eine „glühende Stalinistin“, erzählt Schittko und lacht laut los, wie man es sonst nicht von ihm kennt. Aber er sieht auch positive Veränderungen: Die Hundehaufen seien in den letzten 12 Jahren erheblich weniger geworden. Dann folgt wieder Kritik: Die Döner würden immer schlechter schmecken, kleiner werden und zudem immer veganer. Dazu die Tourist*innen, damit will er gar nicht erst anfangen. Ich wisse ja, wie es sei, ich würde ja selber hier wohnen.

Auch zu den Dealern an der Revaler Straße hat er eine Meinung: „Ich finde es merkwürdig, dass die Schuld so bei den afrikanischen Dealern gesucht wird. Die Deutschen kaufen das Zeug ja. Die Nachfrage ist da.“ Es werde ja kaum was gemacht. Falschparker würden Tag und Nacht kontrolliert, die Drogendealer*innen kaum. (Mehr zum Thema in der Rubrik „Künstler“.)

Das Friedrichshain nicht mehr als Szeneviertel anerkannt wird, zeigt eine Immobilienannonce. Dort heißt es in der Objektbeschreibung: „Der Berliner Ortsteil Friedrichshain grenzt direkt an die angesagten Bezirke Prenzlauer Berg und Kreuzberg. Dieser grüne und zentrale Bezirk gilt als Wohnort von Menschen guten Bildungsstandes mit überdurchschnittlichem Einkommen.“ Die 21 Quadratmeter Neubauwohnung soll 620 Euro im Monat kosten. Interesse?

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-n.jensch@tagesspiegel.de