Nachbarschaft
Veröffentlicht am 21.12.2017 von Nele Jensch

Susanne Rinne-Wolf, 40, ist erste Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes in Kreuzberg. Im Interview spricht sie über die Herausforderungen für Geburtshelfer*innen durch steigende Geburtenzahlen und widrige Arbeitsbedingungen und über Perspektiven für einen der eigentlich schönsten Berufe überhaupt.
In ganz Deutschland herrscht Hebammenmangel, aber in Berlin ist die Situation besonders dramatisch: Frauen mit Wehen werden in Krankenhäusern abgewiesen, Kreißsäle manchmal für mehrere Tage gesperrt. Warum ist die Lage gerade in der Hauptstadt so schlimm?
Berlin ist eine junge und wachsende Stadt. Seit Jahren haben wir steigende Geburtenzahlen und in den letzten zwei, drei Jahren gab es nochmal einen deutlichen, sprunghaften Anstieg. Allein in 2016 hatten wir 5.000 Geburten mehr als im Jahr davor. Dieses Jahr gehen wir von einer ähnlichen Steigerung aus und das Ende des Zuwachses ist nicht in Sicht. Das ist sehr, sehr erfreulich für Berlin und uns alle. Aber es heißt auch, dass aufgestockt werden muss, in allen Bereichen, die mit Kindern zu tun haben. Wir Hebammen sind hier nur die, bei denen sich das Thema zuerst zeigt, weil wir ganz am Anfang des Lebens dabei sind.
Statt der eigentlich gewünschten Eins-zu-Eins-Betreuung bei einer Geburt kümmern sich Hebammen mittlerweile oft um vier oder fünf Frauen gleichzeitig. Was bedeuten diese Arbeitsbedingungen für Gebärende und Hebammen?
Für die Frauen bedeutet es, dass sie oft keine so engmaschige und individuelle Betreuung erhalten können, wie ihnen eigentlich zusteht und wie sie sich wünschen. Leider resultieren daraus dann häufiger als nötig Interventionen, die eigentlich vermeidbar gewesen wären. Für die Kolleginnen bedeutet es, dass sie ständig springen müssen – von einem Kreißsaal in den anderen, ans Telefon, in die Aufnahme, in die Ambulanz, in die Schwangerensprechstunde… Sie müssen also fortwährend ihre Arbeit unterbrechen, enorme Flexibilität beweisen und doch oft hinter ihrem eigenen Anspruch an ihre Arbeit zurückbleiben. Die Kolleginnen nehmen ihre Verantwortung sehr ernst. Wenn die Aufmerksamkeit zwischen zu vielen „Baustellen“ geteilt werden muss, entsteht die Sorge, dass die Qualität nachlässt und die Betreuung nicht mehr das Niveau an Sicherheit aufweist, das nötig ist.
Kleine Kreißsäle werden zunehmend geschlossen, weil sie nicht rentabel sind. Sollten in einer so sensiblen Situation wie einer Geburt wirtschaftliche Interessen nicht medizinischen und sozialen untergeordnet werden?
Auf jeden Fall sollte die gute, wohnortnahe und individuelle Versorgung der Familien im Vordergrund stehen und nicht betriebswirtschaftliche Interessen. Unser Krankenhausfinanzierungssystem mit den Fallpauschalen ist aber auf Pathologie ausgelegt und kann einen physiologischen Prozess wie eine Geburt nicht abbilden. Daher bleibt die Geburtshilfe für die meisten Krankenhäuser uninteressant. Es ist sehr bedauernswert, dass die Kliniken ihre geburtshilflichen Abteilungen selten als das erkennen und wertschätzen, was sie de facto sind: ein positives Aushängeschild, großartige Werbung und die Abteilung mit dem wahrscheinlich größten Potential zur Kundenbindung. Eine gute Geburtshilfe schafft bei den Betreuten Vertrauen in das Krankenhaus, auch für alle kommenden Situationen, in denen eine Versorgung in der Klinik nötig wird.
Viele Frauen finden schon jetzt keine Hebamme mehr, die sie nach der Geburt zu Hause betreut. Dabei sind die Besuche nicht nur medizinisch sinnvoll, sondern haben auch eine soziale Funktion. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn diese Funktion wegfällt?
Unsere Gesellschaft hat sich bezüglich der Familienstruktur in den letzten zwei Generationen sehr verändert. Die Großfamilien, in denen junge Frauen von Kindesbeinen an Schwangerschaften miterleben konnten und in die Versorgung von Säuglingen eingebunden waren, gibt es nur noch selten. Werdende Mütter können heute viel seltener auf einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit Kindern zurückgreifen. Oft fehlen die Bezugspersonen vor Ort, von denen gelernt werden kann, weil Familien über ganz Deutschland oder sogar die ganze Welt verstreut leben. Hier übernehmen Hebammen viele der pädagogischen und psychosozialen Aufgaben, die früher Mütter, Schwestern, Tanten, Cousinen übernommen haben. Diese Unterstützung ist elementar wichtig für junge Eltern, denn sie ist gesundheits- und bindungsfördernd und hat einen deutlichen präventiven Nutzen für die gesamte Familie.
Warum tut die Politik nicht mehr gegen den Hebammenmangel und die schlechten Arbeitsbedingungen, obwohl sich die Situation verschlechtert und sowohl betroffene Frauen als auch Hebammen die Missstände öffentlich anprangern?
Seit Jahren machen wir auf die sich immer mehr zuspitzende Situation aufmerksam. Mit Unterstützung, z.B. von Elterninitiativen und durch die Berichterstattung der vergangenen Monate ist es gelungen, die Politik zu sensibilisieren und zu aktivieren. Die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung ist sich der Probleme sehr bewusst. Gesundheitssenatorin Dilek Kolat hat sich das Thema weit oben auf ihre Agenda geschrieben. Derzeit wird auf verschiedenen Ebenen daran gearbeitet, sowohl kurz-, als auch mittel- und langfristige Lösungen zu finden. Wir sind hier im engen Austausch und hoffen, dass gute Konzepte und Ideen erarbeitet werden, die die Situation schnell und nachhaltig verbessern.
Bis 2020 soll die Ausbildung zur Hebamme europaweit akademisiert sein, seit 2013 bietet die Evangelische Hochschule Berlin den Studiengang Hebammenkunde an. Was halten Sie von der Umstellung vom Ausbildungsberuf zum Studium?
Die Akademisierung des Hebammenberufes in Deutschland ist lange überfällig. Deutschland ist mit Lettland und Litauen das einzige europäische Land, in dem die Hebammenausbildung noch kein Studium ist. Hebammen arbeiten sehr eigenständig, niemand ist ihnen weisungsbefugt, sie übernehmen hohe Verantwortung und arbeiten fachlich auf höchsten Niveau. Nicht umsonst ist gesetzlich geregelt, dass zu jeder Geburt eine Hebamme hinzugezogen werden muss und z.B. Ärzte Geburten nicht allein betreuen dürfen. Um diese Qualität der Arbeit sicherzustellen, entspricht das Niveau, auf dem die Hebammenausbildung schon heute stattfindet, sowieso einem Hochschulstudium, nur heißt sie noch nicht so. Dadurch haben deutsche Kolleginnen international deutliche Nachteile, weil ihr Examen nicht automatisch anerkannt wird. Außerdem ist es unabdingbar, dass Hebammen ihre eigene Forschung betreiben, um die Physiologie von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in den Fokus zu rücken und nicht nur die Forschung verwandter Berufsgruppen nutzen zu müssen, die sich oft auf die Pathologie fokussiert. Und sollte das eine Sorge sein: Die Hebammenkunst ist und bleibt ein praktischer Beruf, der die Menschen in den Mittelpunkt rückt und sich diesbezüglich auch nicht durch die Akademisierung verändern wird.
Trotz der widrigen Umstände – ist es nicht einer der schönsten Berufe überhaupt, neues Leben auf die Welt zu bringen?
Absolut! Und genau darum haben wir Hebammen so lange die schlechten Arbeitsbedingungen und widrigen Umstände kompensiert: Weil wir unseren Beruf lieben, der viel mit Berufung zu tun hat. Das fordert einen ganz besonderen Schlag Mensch, der bereit ist, sich mit Leib und Seele einzulassen um die Familien auf dem Weg in ihr neues Leben zu begleiten. Nele Jensch
Foto: privat
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