Nachbarschaft

Veröffentlicht am 13.09.2018 von Corinna von Bodisco

Max Czollek, 31, schreibt Lyrik und Essays. Außerdem schrieb er nach seinem Studium der Politikwissenschaften eine Promotion am Zentrum für Antisemitismusforschung. Neben dem Schreiben organisiert Czollek zahlreiche Leseveranstaltungen und Veröffentlichungen – beispielsweise als Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und Kurator des internationalen Lyrikprojekts „Babelsprech“. Sein Essay „Desintegriert euch!“ erschien im August 2018 beim Carl Hanser Verlag.

Wie sind Sie von den Politikwissenschaften zur Lyrik gekommen – oder war es andersherum? Das passierte eigentlich gleichzeitig. Beim Schreiben meiner ersten Hausarbeiten merkte ich, dass es mir schwerfiel, den wissenschaftlichen Stil in seiner ganzen Trockenheit durchzuziehen. Als ich dann einmal mit dem Gedichteschreiben anfing, war das plötzlich kein Problem mehr: Jedes Begehren nach Ästhetik oder Metaphorik war aus meiner wissenschaftlichen Sprache verschwunden. Das reichte mir dann bis zur Promotion.

Gerade ist Ihr Buch „Desintegriert euch!“ erschienen. Was stört Sie am Prozess der Integration? Am Prozess der Integration stört mich nicht so viel wie am Integrationsdenken. Ich glaube, es gibt ein Integrationsparadigma in der deutschen Gesellschaft. Eine bestimmte Weise also, wie über Zugehörigkeit nachgedacht wird. Schon das Wort Integration impliziert, dass es ein Zentrum gibt, in das Marginalisierte sich zu bewegen haben. Dass sich dahinter mehr verbirgt, als die Forderung nach dem Spracherwerb, macht die #metwo-Debatte um Mesut Özil deutlich: Menschen, die in der dritten oder vierten Generation in Deutschland leben, machen weiterhin die Erfahrung, dass ihnen die Zugehörigkeit zu diesem Land abgesprochen wird. Bei Integration geht es nicht um die Frage der Teilhabe an einer Gesellschaft, sondern um die kulturelle Dominanz der angestammten Deutschen. Das ist der Grundton des Integrationsdenkens.

In der Einleitung schreiben Sie, der Essay handle nicht von Ihrer jüdischen Familie. Zudem erfahren Lesende: „Dieses Buch wird anders vorgehen“. Was meinen Sie damit? Ich will darauf hinweisen, dass die Biographie das Kapital der Marginalisierten ist. Jüdische Literatur, migrantische Literatur, feministische Literatur – diese Adjektive versprechen dem Leser authentische Gefühle und Lebensgeschichten. Diese Kategorisierung verengt aber das Kunstwerk, dessen Bedeutung sich ja gerade in seiner Vieldeutigkeit entfaltet, auf die biographische Dimension. Im Spannungsfeld von Kategorisierung und Erwartung sammeln sich über die Zeit eine Reihe von Klischees an, die die vermeintliche Authentizität vermitteln. Ich wollte vermeiden, mich am Klischee meiner selbst abzuarbeiten. In dem Buch hatte ich Besseres zu tun.

Was genau? Mich frappiert die Strategielosigkeit der demokratischen Parteien angesichts der Rückkehr des neovölkischen Denkens. Da muss doch mehr gehen als ein halbherziges Eingehen auf die rechten Denkmodelle, eine Art neovölkisch-light, bei dem dann vielleicht keine Hetzjagden stattfinden, aber munter abgeschoben wird. Mir ging es um die Frage, wie ein Konzept von Zugehörigkeit aussehen könnte, das solche nicht nur von der AfD vertretenen Denkweisen unmöglich macht. Desintegriert Euch! ist der Versuch einer unterhaltsamen Abrechnung mit dem Status Quo – und einer Antwort.

Die Buchpremiere fand am vergangenen Samstag statt. Wie reagierte das Publikum auf Ihr Buch? Im Vorfeld hatte ich mich mit meinen beiden Gästen Esra Kücük, Leiterin der Allianz Kulturstiftung, und Maximilian Popp, Spiegel-Korrespondent in Istanbul, auf zwei Dinge geeinigt: Erstens, dass wir ein gleichberechtigtes Gespräch führen würden. Wir versuchten das ohne Moderation umzusetzen, indem wir uns gegenseitig befragten. Zweitens verzichteten wir auf Publikumsfragen. Warum? Zum einen ist einfach keine Zeit, neben einer Lesung und Podiumsdiskussion auch noch mit über hundert Anwesenden ins Gespräch zu kommen. Dafür gab es dann bei einem Glas Sekt genug Raum. Aber auch generell finde ich, dass es für einen intensiven Publikumsaustausch eigene Formate braucht. Am 24. Oktober versuche ich es deswegen mit einem Denklabor, gemeinsam mit den philosophischen Superbrains bei diffrakt | zentrum für theoretische peripherie e.V.

„In Berlin geboren, wo er bis heute lebt“, steht in Ihrer Vita auf der Verlags-Website. Welche Beziehung haben Sie zu Friedrichshain-Kreuzberg? Oh, also wenn ich nicht im Friedrichshain bin, vermisse ich den Bezirk. Und wenn ich dort bin, stresst er mich. Ich würde sagen, dass diese Ambivalenz mich nach allen Berliner Maßstäben zum Friedrichshainer aus ganzem Herzen macht. Ich mag sogar die Touristen auf dem RAW-Gelände. Das ist wie ein kleiner Urlaub. Wenn ich zu viel zu tun habe, fahre ich da hin und bin umgeben von diesen ganzen gut gelaunten Menschen, die in allen Sprachen der Welt sprechen. Wenn dann das Laternenlicht auf meine Bierflasche fällt, fühle ich mich Zuhause.

Sie haben die Buchpremiere von „Desintegriert euch!“ verpasst? Dann schon mal vormerken:

Foto: Stefan Löber

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: corinna.bodisco@extern.tagesspiegel.de.