Nachbarschaft
Veröffentlicht am 09.01.2020 von Corinna von Bodisco

Die Fidicinstraße 40 hat einen urigen Hinterhof. In den länglichen Stallgebäuden waren früher die Pferde der Schultheiss-Brauerei untergebracht. Nicht umsonst trägt der Ort den Namen „Mühlenhaupt Höfe“: Der Künstler Kurt Mühlenhaupt – am 19. Januar wäre er 99 geworden – und seine Frau Hannelore erwarben das damals heruntergekommene Grundstück kurz vor der Wende. „Nach einem Haufen Drecksarbeit“, so nannte der Kreuzberger Milieu-Maler die Herrichtung der Ateliers, findet dort Kunst statt: im Theater Thikwa, im Puppenspieltheater oder in den Künstlerateliers – und ab März eröffnet ein neues Kurt-Mühlenhaupt-Museum.
In den Mühlenhaupt-Höfen ist sie gerade oft anzutreffen: Hannelore Mühlenhaupt, Ehefrau und Lebensorganisatorin des im Jahre 2006 verstorbenen Künstlers. Zu ihren Füßen ihr „Fitnesstrainer“ Othello, ein großer und betagter schwarzer Hund. Er begleitet sie beim morgendlichen Bergsteigen auf den Kreuzberg und beim Brötchenholen für die Mitarbeiter. Zu ihnen zählen die künstlerische Leiterin Christina Schulz, „Bufdi“ Priscilla Schimitt aus Brasilien und zeitweise Eckhard Schulz, langjährige rechte Hand der Mühlenhaupts.
Gegen 14 Uhr zeigt Hannelores Schrittzähler-App bereits 10,42 Kilometer an. „Gut, heute bin ich besonders viel gelaufen.“ Zwei Mal den Kreuzberg rauf und runter, danach trinkt sie einen Kaffee in der Bergmannstraße. „Den Rest bin ich hier hin- und hergerannt, um Stühle und Tische zu schleppen“, berichtet die 71-Jährige. Kurz nach Weihnachten gab es schon die erste komplett ausverkaufte Veranstaltung. Der Liedermacher Rainald Grebe und seine Frau, die Schauspielerin Tilla Kratochwil, lasen Briefe von Theodor Fontane. Nach der Eröffnung sollen weitere Konzerte und Lesungen stattfinden, eingerahmt von „Kurtchens“ Kunst.
Hannlore tischt Kuchen und Kaffee auf. Nichts fehlt, nur „die Kuchengabeln sind noch in Bergsdorf“. Den brandenburgischen Gutshof, den sie dort besaß, verkaufte sie letztes Jahr freiwillig an einen chinesischen Investor. Zukünftig gibt es dort statt den Werken von Kurt Mühlenhaupt chinesische Kunst zu sehen. Nach 30 Jahren sei es nicht leicht zu gehen. „Ich war in Bergsdorf auch Zuhause. Allerdings habe ich in Bergsdorf von Kreuzberg geträumt und jetzt sehne ich mich nach dem Wald und der großen Lanke.“
Zwar gebe es ein starkes Kiezgefühl um den Chamissoplatz, doch es organisiere sich hier anders. Das Zusammengehörigkeitsgefühl sei auf dem Land intensiver. Bei großen Veranstaltungen „haben Uschi und Sandra Kuchen gebacken“. In Kreuzberg fährt Hannelore zur Metro, alles muss sich erst mal einspielen.
In zwei Räumen auf insgesamt etwa 150 Quadratmetern hängen schon einige von Kurt Mühlenhaupts Ölbildern und Lithografien. Mit großer Leidenschaft malte er Tiere, Blumen, Landschaften, Menschen und beinahe jede Straße rund um den Chamissoplatz oder um die Heilig-Kreuz-Kirche. Seine Kunst sei eine für die kleinen Leute, sie zeige die Lebenswelt auf den Kreuzberger Straßen und in den Kneipen: Straßenfeger, Handwerker, Putzfrauen, Kellner, Bettler, Dirnen, Hochzeits- und Trauergesellschaften. „Trotzdem hängen seine Bilder jetzt vorwiegend in Arztpraxen und Anwaltskanzleien“, weiß Hannelore. Die Studenten, die damals in der von Kurt Mühlenhaupt gegründeten Künstlerkneipe „Leierkasten“ nicht bezahlen konnten, seien heute größtenteils Wasserwerks- oder Oberstudiendirektoren und würden seine Bilder kaufen.
Bei der dicken roten Heilig-Kreuz-Kirche in der Blücherstraße hatte der Künstler jahrelang eine Trödelhandlung – neben dem Malen musste schließlich Geld reinkommen. „Tagsüber räumte er Wohnungen aus, abends hat er gemalt und alle Künstler kamen vorbei.“ Irgendwann kehrte sich das Prinzip um: Mit dem Verkauf seiner Bilder unterhielt er die Trödelhandlung, bis das Grundstück verkauft wurde. Vertreiben lassen wollte er sich nicht und fand ein kleines Atelier in einem Eckhaus am Chamissoplatz. „Kurt war dort sehr glücklich, bis er irgendwann wegsaniert wurde.“
Eigentlich sollten die fertig hergerichteten Höfe in der Fidicinstraße kurz nach der Wende der neue Arbeits- und Lebensmittelpunkt werden, doch es kam anders. „Nach der Wende hielten wir es nicht lange aus und wollten sehen, wie es den Künstlern drüben ging“, schreibt Kurt im Bild- und Sammelband zu seinem 80. Geburtstag. Das Grundstück in Bergsdorf machte beide neugierig, zog sie an. Die brandenburgische Landschaft wurde im darauffolgenden Jahrzehnt zur Malkulisse. „Doch der Sehnsuchtsort blieb Kreuzberg“, sagt Hannelore. Nicht verwunderlich sei es also, dass seine Kunst nun nach Kreuzberg „zurückkehrt“.
Nur den ehemaligen Schafsstall, Kurts „Archiv“, habe sie nicht an die Chinesen verkauft. Warum sie nicht alle Werke nach Kreuzberg holt? „Der Platz hier ist zu wertvoll, um nur Bilder zu lagern“. Eine gute Nachbarschaft will sie weiter pflegen, im Herbst soll es zum dritten Mal ein Videofestival im Hof geben. „Am 19. Januar ist Kurts Geburtstag, da zeigen wir Filme von Ulrich Schamoni: ‚Mein Bruder Willi’ und ‚Quartett im Bett’“. Der Regisseur war natürlich auch ein Freund der Mühlenhaupts.
Das Museum wird voraussichtlich ab März 2020 geöffnet sein: freitags und samstags von 15-19 Uhr, steht auf der Webseite muehlenhaupt.de. Wer den Museums-Newsletter (newsletter@muehlenhaupt.de) abonniert, @museumkurt auf Twitter und @kurtmuehlenhauptmuseum auf Facebook folgt, bleibt auf dem Laufenden.
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Text und Foto: Corinna von Bodisco
Diesen Text haben wir dem Newsletter für Friedrichshain-Kreuzberg entnommen, der immer mittwochs erscheint. Kostenlos hier bestellen: leute.tagesspiegel.de.
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