Nachbarschaft
Veröffentlicht am 02.04.2020 von Nele Jensch
Elias Dege und sein Team von „Warmgefahren“ bringen in normalen Zeiten mit dem Lastenrad Hilfe zu Obdachlosen, hier habe ich das Projekt schon einmal vorgestellt. In der Corona-Krise ist das nun nicht möglich. Dege hat aber klare Vorstellungen darüber, was Politik und Gesellschaft jetzt tun müssen, um Wohnungslosen zu helfen.
„Bleiben Sie zu Hause, um sich und andere zu schützen“, ist angesichts der Corona-Krise die Parole der Stunde. Was bedeutet das für Obdachlose? Es ist wichtig, sich an die deutlich ausgesprochenen Empfehlungen der Bundesregierung und des RKI zu halten und seinen Alltag nach den (temporären) Regeln zu organisieren. Für Menschen, die derzeit auf der Straße leben müssen, ist das natürlich fast unmöglich umzusetzen. Allein, wenn wir über Hygiene-Regeln reden. Ich hoffe hierbei auf schnelle Lösungsansätze seitens der Politik!
Die Tafeln sind geschlossen, auf den Straßen und in den Bahnen sind nur wenige Menschen unterwegs, deshalb gibt es wenig Spenden und Pfandflaschen zum sammeln. Wie überleben Obdachlose jetzt? Ich schätze diese Situation als sehr bedrohlich für obdachlose Menschen ein. Die meisten Obdachlosen leben von einem Tag in den nächsten und haben keine finanziellen Rücklagen oder gar einen Vorrat an Lebensmitteln. Sie sind auf die tägliche Hilfe von Passant*innen sowie Hilfsangebote angewiesen. Wir können beobachten, dass aufgrund der beschlossenen Maßnamen immer weniger Menschen auf den Straßen unterwegs sind und viele Hilfsorganisationen und Vereine Schwierigkeiten haben, die Menschen zu versorgen. Wir wissen nicht, wie sich die Lage in den kommenden Tagen und Wochen entwickelt und ob die Maßnahmen, sich im schlimmsten Fall sogar weiter verschärfen werden. Für die Obdachlosen wäre das fatal.
Normalerweise bringt „Warmgefahren“ per Lastenrad Hilfe zu Obdachlosen. Seid ihr auch jetzt unterwegs oder plant Touren, um die Menschen mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen? „Warmgefahren“ lebt von einem sehr engen Austausch mit den Menschen auf der Straße, der jetzt so nicht mehr möglich ist. Zudem sind wir ein relativ kleines Projekt mit wenig Kapazitäten. Wir haben früh entschieden, dass wir uns und die Menschen nicht in Gefahr bringen wollen und suchen derzeit nach Lösungen, wie auch wir helfen können. Es ist im Moment für alle Organisationen nicht leicht.
In London werden Obdachlose in Hotels untergebracht, die ohnehin leer stehen. Würdest du eine solche Lösung auch für Berlin begrüßen? Grundsätzlich finde ich das eine sehr gute Idee, da ein Hotel eine bestehende Infrastruktur bietet und Personen gut voneinander isoliert werden können. Vielleicht könnten sogar Arbeitsplätze, unter bestimmten Vorraussetzungen, erhalten werden. Ich denke es könnte möglich sein, geeignete Standorte auch in Berlin zu finden, die Menschen bräuchten neben einer Unterkunft zusätzlich ärztliche Betreuung und Ansprechpartner vor Ort, die z.B. dafür Sorge tragen, dass alle Hygiene-Regeln eingehalten werden. Was wir jetzt brauchen, sind gute Ideen und entschiedenes Handeln – ich hoffe auch auf Lösungen nach der Corona-Krise. In Berlin haben wir zum Beispiel landesweit einen Immobilien-Leerstand von 1,2 Millionen Quadratmeter.
Wie können die Bürger*innen obdachlosen Menschen helfen? Ich finde es schön zu beobachten, dass viele Menschen kreative Ideen haben, um auch in solch einer Situation obdachlose Menschen zu unterstützen, ohne dabei ein Infektionsrisiko für beide Seiten einzugehen – Gabenzäune zum Beispiel, Menschen hängen gefüllte Tüten mit lebensnotwendigen Dingen an Zäune, welche dann von Obdachlosen mitgenommen werden können. Solchen Ideen muss es jetzt mehr geben! Aber ich appelliere an den Willen der Politik, diese Menschen in dieser Situation zu unterstützen und hoffe auf zielgerichtete Entscheidungen, die dazu beitragen, schnellstmöglich eine Lösung zu finden. Es ist besonders wichtig, jetzt Solidarität mit Menschen zu zeigen, die weniger privilegiert sind, sich vor einer Pandemie, wie dieser, selbst schützen zu können. Auch an den EU-Außengrenzen – leave no one behind.
Text: Nele Jensch, Foto: Anton Corbal
Wie leben Obdachlose derzeit in Berlin? Kollege Robert Klages hat sich an der Rummelsburger Bucht umgehört – dort macht man sich nicht nur Sorgen um das Coronavirus.
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: nele.jensch@extern.tagesspiegel.de
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