Nachbarschaft
Veröffentlicht am 05.11.2020 von Nele Jensch
Ann Cathrin Riedel, 33, ist Themenmanagerin für Digitalisierung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung, Speakerin und Vorsitzende des liberalen netzpolitischen Vereins LOAD. Die FDP Friedrichshain-Kreuzberg hat sie als Wahlkreiskandidatin für Friedrichshain-Kreuzberg und Prenzlauer Berg Ost nominiert.
Sie werden bei der Bundestagswahl kommendes Jahr im Wahlkreis 83 Friedrichshain-Kreuzberg/Prenzlauer Berg-Ost für die FDP ins Rennen gehen. Was möchten Sie, sollten Sie gewählt werden, im Parlament bewegen? Die Einschnitte von Bürgerrechten haben mich politisiert, dafür möchte ich mich im Bundestag und darüber hinaus weiter stark machen. In einer digitalen und vernetzten Welt haben unsere Entscheidungen noch stärkeren Einfluss auf die ganze Welt. Mein Einsatz für eine bessere internationale Zusammenarbeit bei diesem Thema und für bessere Internet Governance ist ganz im Sinne meines Vorbilds und Freunds, dem vor einem Jahr verstorbenen Netzpolitiker und Mitglied des Bundestags, Jimmy Schulz. Wir müssen als demokratische Staaten viel stärker dafür sorgen, dass sich die Prinzipien unserer Demokratien auch in der Gestaltung der digitalen Welt widerspiegeln. Ebenso müssen wir dafür sorgen, dass wir als Europa, aber auch als Stadt Berlin, deutlich an digitaler Souveränität gewinnen – was nicht heißt, dass wir autark werden müssen und uns von allem abschotten.
Für welche Maßnahmen kämpfen Sie besonders? Wir müssen zum Beispiel Wahlmöglichkeiten haben, was Software angeht und sollten nicht abhängig von einzelnen Anbietern sein. Ebenso müssen wir die Hoheit über unsere Daten haben – gerade wenn Berlin eine Smart City werden soll. Wir brauchen im Deutschen Bundestag mehr Politiker:innen mit Digitalexpertise – ich möchte eine davon werden. Eine, die dabei aber immer den Menschen im Fokus sieht und Menschen- und Bürgerrechte mitdenkt.
Ihre Expertise ist vor allem die Digital- und Bürgerrechtspolitik, Sie kritisieren Vorratsdatenspeicherung und Staatstrojaner scharf. Warum ist Freiheit im Netz so wichtig? Gerade in der Corona-Pandemie merken wir, wie wichtig ein freies Internet für nahezu all unsere Menschen- und Bürgerrechte ist. In vielen Ländern der Welt sind die Einschnitte aber deutlicher zu spüren. Das Menschenrecht auf Gesundheit kann davon abhängen, ob ich Zugang zu Wissen und Information über COVID-19 habe. Auch das Recht auf Versammlungsfreiheit verlagert sich immer mehr in den digitalen Raum. Gibt es Beschränkungen, zum Beispiel von Regierungen durch Gesetze oder durch das Abschalten des Internets, werden mir diese Rechte verwehrt. Die Unzulässigkeit der pauschalen Vorratsdatenspeicherung wurde erst kürzlich vom EuGH abermals bestätigt. Der Staatstrojaner und die Vorratsdatenspeicherung sind hier in Deutschland zwei Beispiele, wie Bürgerrechte massiv eingeschränkt werden – und das ohne nennenswerte Erfolge in der Ermittlungsarbeit und mit erheblichen Kollateralschäden.
In vielen Bereichen ist die Xhainer FDP den im Bezirk regierenden Parteien inhaltlich nahe. Dazu gehören Forderung nach einer besseren Rad-Infrastruktur und einer gerechteren Verteilung des Straßenlandes, dem Einsatz für Gleichstellung oder der Unterstützung für die LGBT*-Community. Wie wollen Sie sich von Ihren Kontrahent*innen absetzen? Das haben Sie richtig erkannt: das sind alles Themen, die uns sehr wichtig sind und für die wir uns als FDP Friedrichshain-Kreuzberg stark machen. Wir gehen diese Themen aber nicht ideologisch an, sondern mit dem Ziel der Freiheit und Ermächtigung des Einzelnen. Das unterscheidet uns. Unterschiedlich ist auch die Herangehensweise bei anderen Themen – ich nenne zwei exemplarisch: Wir wollen mehr bezahlbaren Wohnraum. SPD und Linke stellen seit Jahren die Bausenator:innen, aber bisher ist nur ein Bruchteil der tausenden versprochenen Wohnungen realisiert. Der Grüne Baustadtrat Florian Schmidt leert mit dem Vorkaufsrecht die Kassen des Bezirks, schafft aber keinen neuen Quadratmeter Wohnraum. Wir fordern schnellere Baugenehmigungen, den Ausbau von Dachgeschossen und die Randbebauung des Tempelhofer Felds – übrigens ein Drittel Genossenschaftsbau, ein Drittel öffentlicher Wohnungsbau, ein Drittel privater Wohnungsbau.
Und was ist das andere Thema? Friedrichshain-Kreuzberg steckt voller Unternehmer:innen. “Die Wirtschaft” ist nicht irgendwer: Wir alle sind Teil davon. Die Restaurants, Imbisse, Bars und Clubs, aber auch Startups, Kreative und Solo-Selbstständige machen unseren Bezirk zu dem, was er ist. Sie sind massiv wirtschaftlich von der Corona-Pandemie getroffen. Wir wollen sie gezielt unterstützen und uns weiterhin für sie einsetzen, wie es meine Parteikolleg:innen bereits jetzt im Bundestag tun. Aber auch abgesehen von der Corona-Pandemie wollen wir Unternehmen unterstützen: beispielsweise durch massive Entbürokratisierung, die auch den kleinsten Betrieben hilft und Mitarbeiterbeteiligungen, die gerade für Startups relevant sind.
Die FDP ist eine sehr männerdominierte Partei, kürzlich stand Parteichef Christian Lindner aufgrund einer sexistischen Bemerkung über die ehemalige Generalsekräterin Linda Teuteberg in der Kritik. Wie gehen Sie mit innerparteilichem Sexismus um? Jede Partei ist von Männern dominiert, wie so viele Bereiche und Branchen. Die FDP ist da keine Ausnahme. Trotzdem müssen wir innerparteilich dagegen etwas tun. Sexismus geht im Übrigen gar nicht – weder in der FDP noch irgendwo anders. Da müssen wir immer und überall deutlich sagen, dass wir das verurteilen. Ich bin froh, dass sich Christian Lindner für seine Äußerung entschuldigt hat. Menschen, die in der Partei von Sexismus oder anderen Diskriminierungen betroffen sind, können immer sich an unsere Ombudsperson im Bund oder 16 Vertrauenspersonentandems in den Ländern wenden. Die FDP ist übrigens weltweit die erste Partei gewesen, die ein Ombudssystem implementiert hat.
Welche konkreten Schritte setzt die FDP denn innerparteilich ein? Die Frauenpolitiker:innen aller Parlamente sind mittlerweile institutionell in einer AG organisiert. Die Berliner Abgeordnete Maren Jasper-Winter hat kürzlich ein Netzwerk aller Spitzenpolitikerinnen aus Bund, Ländern und Europa ins Leben gerufen. Und in unserem Parteiprogramm steht unter anderem ein modernes Arbeitszeitgesetz, die Abschaffung der Steuerklassen III und V (Anm. d. Red.: das „Ehegattensplitting“), Jobsharing oder die Aufwertung von Sorgearbeit durch die Übertragung von Rentenpunkten und vieles mehr, von denen vor allem Frauen profitieren. Wir haben viele Männer, die nicht dem Klischee “Männerpartei” entsprechen: Konstantin Kuhle, Johannes Vogel oder Thomas Sattelberger, um nur einige zu nennen. Und die FDP hat zwei ihrer drei Ausschussvorsitze im Bundestag mit Frauen besetzt. Mit Gyde Jensen hat die jüngste weibliche Abgeordnete einen inne und als Bettina Stark-Watzinger parlamentarische Geschäftsführerin wurde, wurde Katja Hessel Vorsitzende im Finanzausschuss.
Text: Nele Jensch; Foto: Paul Alexander Probst
Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: nele.jensch@extern.tagesspiegel.de
+++ Dieses Interview stammt aus dem Newsletter Friedrichshain-Kreuzberg. Jeden Donnerstag kostenlos erhalten: leute.tagesspiegel.de
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