Nachbarschaft
Veröffentlicht am 03.12.2020 von Corinna von Bodisco

Bei der Recherche zum verschwundenen Friedrichshainer Schwimmbad in der Weinstraße 9 bin ich auf den Blog iberty.net von Dirk Franke aufmerksam geworden. Der Blogger beschäftigt sich publizistisch-historisch mit Berliner Schwimmbädern.
Gab es für Sie einen Auslöser, sich so ausführlich mit Berliner Schwimmbädern zu beschäftigen? „Die Lust am Schwimmen und die Berlin-Neugier. Viele der Bäder sind in Ortsteilen, in die ich ohne Bad-Recherchen nie gekommen wäre. Historische Wissbegierde kam hinzu. Berlin hat die vielfältigste Schwimmbadlandschaft in Deutschland. Die deutschen Staaten der letzten 150 Jahre haben in der Stadt ihre Spuren verlassen: Die repräsentativen Bauten des Kaiserreichs, der Aufbruch der Weimarer Republik; der Wiederaufbau nach dem Krieg, die Fitnessbewegung, Spaßbäder und die verschiedenen Phasen der DDR. Alle hinterließen ihre eigenen Bäder. Selten lässt sich Geschichte so hautnah erleben wie in der Schwimmhalle. Der direkte Auslöser allerdings waren die schwierigen Öffnungszeiten der Berliner Bäder. Je nach Tag und Uhrzeit muss der geneigte Schwimmer in verschiedene Bäder. Diese zwangsweisen Schwimmbadreisen durch die halbe Stadt weckten mein ursprüngliches Interesse.“
Ich zitiere mal aus einem Ihrer Blog-Beitrage: „Was wurde aus Dir, Friedrichshain? Vom Quell des Berliner Schwimmsports hin zur heutigen Wüste.“ Was ist damit gemeint? „Die Wüste ist einfach zu erklären: Es gibt im Ortsteil kein Schwimmbad mehr. Schwimmer in Friedrichshain können sich entweder an die Spree stellen und sehnsuchtsvoll auf das Badeschiff am anderen Ufer schauen. Oder sie stellen sich vor die beginnende Ruine der Schwimmhalle Holzmarktstraße.“
War das denn mal anders? „Ja, früher: Seitdem es in Berlin Hallenbäder gab – seit etwa 150 Jahren – standen in Friedrichshain die modernsten und spannendsten Bäder der Stadt. Das zweite Hallenbad Berlins stand in Friedrichshain. Das Friesenstadion, in dem Weltrekorde geschwommen wurden und zahlreiche internationale Wettkämpfe stattfanden, stand in Friedrichshain. Das SEZ, Spaßbad der DDR, stand in Friedrichshain. Das schönste der normalen Schwimmhallen der DDR nahm seinen Ursprung in diesem Ortsteil. Die Hallenbäder der DDR entstanden, ähnlich wie Wohnblöcke, als Typenbauten. Es gab die Typen A(nklam), B(itterfeld) und dann Typ C – den ambitioniertesten und anspruchsvollsten aller Schwimmhallen-Typenbauten. Dessen erster Bau, der Urbau des Bautyps C, stand in Friedrichshain, bevor er landesweit verbaut werden sollte.“
Für Ihren Blog haben Sie sich auch mit dem Schwimmbad in der Weinstraße 9 beschäftigt. Auf dem Gelände steht heute ein Aldi-Markt und ein Parkplatz. Was war denn besonders an dem Bad? „Es war der Urtyp vom Typenbau C. Er entstand kurz nach der Machtübernahme Erich Honeckers Anfang der 1970er. In politisch unruhigen Zeiten, nach den 1968ern im Westen und dem Prager Frühling, galt es einen Aufbruch zu signalisieren. Nach dem bleiern gewordenen Klassenkampf der Ulbricht-Zeit verführte es zum kleinen Luxus im Privaten. Während politisch alles beim Alten blieb, sollten sich die Menschen auf ihre Freizeit konzentrieren. Dazu gehörte bei den Bädern eine anspruchsvolle Architektur mit weiten Formen, großen Fenstern, Anklang an modernes Design. In dieser Phase der so genannten Ostmoderne herrschte der Anspruch, sich an internationale Entwicklungen anzuschließen. Wie dramatisch dieser Aufbruch letztlich scheiterte, kann man am spurlosen Verschwinden der Schwimmhalle nachvollziehen.“
Gab es noch andere bauähnliche Schwimmbäder in Friedrichshain? „Die Schwimmhalle Holzmarktstraße entstammt demselben Typ. DDR-weit war sie erst das dritte Bad dieses Typs und heute das älteste, erhaltene Bad vom Typ C. Allerdings lässt sie sich nur noch von Außen betrachten. Die Schwimmhalle war schon viele Monate vor Corona geschlossen. Sie wird nicht mehr wieder eröffnen, sondern abgerissen. Die nächstgelegenen Typ-C-Bauten sind die Schwimmhalle Thomas-Mann-Straße (Prenzlauer Berg), Fischerinsel (Mitte) und Anton-Saefkow-Platz (Fennpfuhl / Lichtenberg). Diese sind unter normalen Umständen geöffnet.“
- Buchprojekt und Schwimmbad-Quartett. Dirk Franke plant ein Buch über seine Schwimmbad-Recherchen, ein Quartett zu 32 Hallenbädern gibt es schon.
- Eines davon darf ich verlosen. Die Rätselfrage lautet: Wo stand das Friesenstadion vor seinem Abriss? Die Antwort schreiben Sie mir bis zum 5. Dezember, 11 Uhr, per E-Mail an: Corinna.Bodisco@extern.tagesspiegel.de. Die oder der Gewinner*in wird von mir benachrichtigt. Vergessen Sie Ihre Adresse nicht, dorthin wird das Set dann verschickt.
- Mysterium Abrissdatum Weinstraße 9. Übrigens: Das genaue Abrissdatum der Halle in der Weinstraße 9 bleibt mysteriös. Normalerweise muss für den Abriss einer Schwimmhalle eine Abrissanzeige erfolgen. Diese sei jedoch im Archiv nicht auffindbar. „Der Abriss müsste 2007 erfolgt sein“, heißt es von der Bauaufsicht, denn eine Abrissanzeige vor diesem Jahr existiere nicht. Das Bauamt zieht diese Schlussfolgerung aus den vorliegenden Quellen. Was vorliegt: eine Bauvoranfrage „Umbau einer Schwimmhalle zu einem Lebensmittelmarkt aus dem Jahr 2003, der Bauantrag anno 2006, die Baugenehmigung „Neubau Lebensmittelmarkt“ von Dezember 2006.
- Eine weitere Schwimmbad-Expertin ist übrigens Bianca Tchinda (schwimm-blog-berlin.de). Auf den Beitrag zur Weinstraße 9 im letzten Newsletter und der Frage, was mit dem Schwimmbad passierte, twitterte Sie wie aus der schnellen Welle geschwommen: Die Sitzung, bei der das Gebäude entwidmet und das Grundstück „vertickt“ wurde, fand am 6. März 2002 statt. Die Stilllegung war laut Staatssekretärin Sigrid Klebba (SPD) „unsachgemäß“. Eröffnung des Schwimmbads: 10. Januar 1973 (Q.: Neue Zeit, Zefys).
- Foto: Katharina Franke
- Wenn Sie gerade einen Gedankenblitz haben, wer hier bald mal vorgestellt gehört, schreiben Sie mir. Hier meine Mail: leute-c.bodisco@tagesspiegel.de.
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