Nachbarschaft

Veröffentlicht am 23.12.2020 von Nele Jensch

Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Noch ist das Dragoner-Areal direkt hinter dem Kreuzberger Rathaus größtenteils eine Stadtbrache. Bezirk, Senat die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) und zivilgesellschaftliche Akteur*innen planen nach dem Kauf des Geländes vom Bund dessen Umgestaltung: Neben Anbauten für Rathaus und Finanzamt ist ein Hochhaus mit 16 Geschossen geplant, ein großer Marktplatz im Zentrum, Gärten für die Mietenden der anvisierten 500 günstigen Wohnungen sowie Gewerbeflächen. Ulrike Hartwig und Sebastian Nagel wollen den jetzigen Zustand des Areals vor dem Umbruch in einem Dokumentarfilm festhalten, das Projekt heißt „Kleinod vor dem Umbruch“.

Ihr wollt dem Dragonerareal ein filmisches Denkmal setzen – bevor es sich verändert. Warum, und wie ist die Idee entstanden? Im Juli 2019 sind wir das erste Mal zu einem Rathausblock-Forum gegangen. Kurz danach liefen auch die ersten Präsentationen des Werkstattverfahrens, so dass wir dabei schnell Kontakte geknüpft und einen tieferen Einblick bekommen haben. In Gesprächen mit anderen kam die Frage auf, ob sich eigentlich jemand darum kümmert, dass der jetzige Zustand festgehalten wird. Wir sind in den Bereichen Musikproduktion und Veranstaltungstechnik tätig. Mit Corona brachen 70 Prozent unserer Aufträge weg. Plötzlich hatten wir Zeit – unsere bis dahin eher vage Idee nahm Gestalt an.

Wann habt ihr mit den Dreharbeiten begonnen? Im Juni 2020 hatten wir die Drehgenehmigung der Eigentümerin und fingen mit den ersten Geländeaufnahmen an. Bis dahin hatten wir schon einen ganz anderen Einblick in die Geschichte, die Initiativen und die Gewerbemieter*innen bekommen. Uns wurde klar, dass man das Gelände, wie es jetzt ist, nicht ohne das alles abbilden kann. Nach den ersten Interviews stellte sich heraus, dass da eigentlich noch viel mehr drin steckt und das Projekt wurde zunehmend größer und reifer.

Viele Berliner*innen und auch Anwohner*innen kennen das Dragonerareal gar nicht, höchstens aus den Medien. Woran liegt das? Das ging uns auch so. Wir wohnen seit 20 Jahren hier in der Gegend, aber wir hatten nie die Veranlassung, da hineinzugehen. Das Gelände liegt hinter dem Finanzamt und dem Rathaus und ist eigentlich komplett von Gebäuden umschlossen. Es sieht nicht sonderlich einladend aus und normalerweise läuft oder fährt man einfach dran vorbei. An einem gewöhnlichen Werktag, wenn man dort in der Nähe zu tun hat, nimmt man ja nicht die Freiheit und Ruhe wahr, die dort tiefer drin und am Wochenende oder Abends herrscht.

Was haltet ihr von den Plänen des Bezirks, das Areal im Rahmen eines Modellprojekts gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und weiteren Institutionen kooperativ zu entwickeln? Es gibt natürlich unterschiedliche Ansichten darüber, was dort überhaupt passieren soll, auch wir sind da nicht einer Meinung. Die finalen Pläne stehen zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht endgültig fest, es gibt noch keinen Bebauungsplan. Darum ist es jetzt auch so interessant, diese Dokumentation zu machen. Gut finden wir natürlich, dass da nicht ein Investor etwas hinstellt und dabei in erster Linie seine Zwecke verfolgt, sondern, dass das Gelände in öffentlicher Hand bleibt und es eine Kooperationsvereinbarung gibt, die die Beteiligung regelt. Das ist hauptsächlich den Initiativen zu verdanken, die lange dafür gekämpft haben. Auch die Absicht, das bestehende Gewerbe nicht einfach zu verdrängen, sondern deren Interessen ebenfalls zu berücksichtigen, ist eine gute Sache. Und es wird Zeit, sich mal richtig um die alten Gebäude zu kümmern, damit sie nicht weiter verfallen.

Und was würdet ihr euch wünschen für das Dragoner-Areal? Unsere Meinung ist etwas zweigeteilt. Einerseits wäre es schön, alles zu lassen, wie es ist. Alles zu sanieren und den Boden zu entsiegeln, um mehr Platz für Grün zu haben. Andererseits wird Wohn- und Gewerberaum dringend gebraucht. Auch interessiert uns bei den Plänen ein eventuell mögliches Wohnen und Arbeiten unter einem Dach, Möglichkeiten für Kultur, Atelier- und Proberaumnutzung und auch die Konzepte der gemeinschaftlichen Raum- und Flächennutzung. Zudem bietet die Absicht, das Gelände nachhaltig und für das Gemeinwohl zu entwickeln, eine Chance, dass dort tatsächlich etwas mit Modellcharakter entsteht. Im besten Fall kann man eine Art Blaupause schaffen, von der ganz Berlin profitiert.

In eurem Film geht es nicht ausschließlich um das Dragonerareal: Die Antworten und Überlegungen der Protagonist*innen gehen oft darüber hinaus, die Stadtentwicklung rückt insgesamt in den Fokus. Es geht darum, was für die Stadt bzw. die Menschen, die dort leben und arbeiten, gebraucht und gewünscht wird. Das Ganze ist natürlich auch eine Art Projektionsfläche. Ob das am Ende alles so klappt und so ausgewogen ist, wie es sich alle wünschen, wird man dann sehen. Das Gelände, so wie es jetzt ist, mit seiner speziellen Vergangenheit, wie es sich bis heute entwickelt und die Leute beeinflusst hat, ist schon an sich wert, gezeigt zu werden. Dazu kommt noch das Ringen darum, was daraus einmal wird. Das gibt sehr viele wichtige Denkanstöße für eine demokratische Stadtentwicklung. Hier passiert im Kleinen, komprimiert, was für die Gesellschaft im Großen Bedeutung hat. Wir werten nicht, sondern zeigen es und hören zu.

Wie kann man euch unterstützen? Ein wichtiger Bestandteil unseres Projektes ist, dass dieser Film später eine Zeitlang für jeden online zugänglich und frei verfügbar sein soll. Wir wollen ihn dem Verein UpStadt e.V. für seinen Geschichts- und Lernort übergeben. Es ist uns wichtig, unabhängig und ohne fremde Einflussnahme daran zu arbeiten. Wir stemmen dieses Projekt lediglich zu zweit, was für uns einen erheblichen Zeitaufwand bedeutet, den wir unentgeltlich leisten. Darum benötigen wir finanzielle Unterstützung und haben uns für ein Crowdfunding entschieden. Wenn uns jemand unterstützen will, kann man das auf auf Startnext tun. Wir schätzen auch kleine Gesten, die dazu beitragen, unser Dokumentarfilm-Projekt zu verwirklichen. Für die Unentschlossenen haben wir eine sechsminütige Arbeitsprobe aus bereits geführten Interviews vorbereitet, ein kleiner Einblick. Es werden nach erfolgreichem Crowdfunding natürlich noch weitere Interviews folgen. Zu finden ist das Vorab-Video hier.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: nele.jensch@extern.tagesspiegel.de

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+++ Und das sind die Themen diese Woche:

  • Corona-Update: Ausbruch in Obdachlosenheim, Gesundheitsamt verfolgt nicht mehr alle Kontaktpersonen nach
  • Bezirk sichert 72 Wohnungen durch Vorkauf und präventiven Ankauf
  • Kleinod vor dem Umbruch: Ulrike Hartwig und Sebastian Nagel wollen den Jetzt-Zustand des Dragoner-Areals filmisch festhalten
  • Instandsetzung der Fußgängerbrücke zum S-Bahnhof Warschauer Straße
  • Kunst fürs SO36 im Papp-Späti
  • „Innen Leben“: Heimbewohner*innen erzählen vom Corona-Alltag
  • Kein Aufenthalt, kein Feuerwerk: 54 neue Böllerverbotszonen berlinweit bekanntgegeben
  • Kiez-Brauerei leidet unter Shutdown
  • Kunstaktion: „Schlichthäuser“ für wohnungslose Menschen
  • „Nur hier bin ich Kreuzberger“: Ekrem-Hamza Huskic hat bosnische Wurzeln und erzählt vom Zugehörigkeitsdilemma junger Menschen, die migrantisch gelesen werden – und von der Offenheit der Religionen