Nachbarschaft
Veröffentlicht am 08.04.2021 von Corinna von Bodisco
Was macht einen Kiez aus? Davon haben manche Anwohner*innen eine konkrete Vorstellung und engagieren sich für ihre Ziele. So zum Beispiel im Reichenberger Kiez.
Weniger Autos, mehr Ideen. Vertreter*innen der Initiative „Reichenberger Kiez für Alle“ und Aktive von „Reichenberger Kiezblock“ fordern die Abschaffung des Durchgangsverkehrs, eine Verkehrsberuhigung im gesamten Kiez, eine bessere Radinfrastruktur, Fußgängerzonen und einen ganzheitlichen Ideenwettbewerb. Dafür haben sie an einem Einwohner*innenantrag gearbeitet und bereits über 1000 Unterschriften gesammelt.
Am 13. April wird der Antrag „Reichenberger Kiez: Für Menschen statt für Durchgangsverkehr“ zur Schaffung eines sogenannten „Kiezblocks“ im Büro der Bezirksverordnetenversammlung abgegeben. Im Video-Call haben mir die Vertrauenspersonen des Antrags – Rita König und Fiete Rohde – erzählt, wie es zum Antrag kam und welche Ideen sie auch noch darüber hinaus für den Kiez haben.
Alles begann bei einer offenen Versammlung Ende 2019 vom Verein Kiezconnect auf der Ohlauer Straße. Rita sei „zufällig reingestolpert“ – nass und kalt sei es gewesen, erinnert sie sich. Eigentlich dachte sie auch, für so etwas keine Zeit zu haben. Doch dann entstand aus dem Treffen eine Gruppe; die Menschen wollten etwas in ihrem Umfeld verändern.
Bei der zweiten größeren Versammlung im Sommer 2020, draußen, „haben wir uns in Arbeitsgruppen wie ’soziales Miteinander‘ oder ‚Begrünung‘ aufgeteilt“, erklärt Fiete. Selbst im sehr schwierigen Corona-Jahr wurde weiter „kokreativ“ an Ideen und Lösungen miteinander gearbeitet. Es gab viele Online-Treffen – auch mit Initiativen aus den Nachbarkiezen.
Orte der Begegnung. Als das Wetter 2021 wieder schöner wurde, kam die Überlegung, eine Wildblumenwiese anzulegen – am Paul-Linke-Ufer beim Bouleplatz. So eine Wiese habe eine „riesige Strahlkraft für die Anwohnerschaft“ und genau so etwas brauche es im Reichenbergerkiez für eine spür- und sichtbare Veränderung, die von der Nachbarschaft kommt und getragen wird. Ein ähnliches Projekt als Orte der Begegnung gebe es bereits an der Admiralbrücke im Graefekiez. Auch Orte „wie eine griechische Agora“ brauche es, findet Fiete.
Doch direkt bei der Wiese wurde Anfang März ein Toilettenhäuschen aufgestellt. Gerade erst hatten Nachbar*innen die Wiese umgegraben. „Es ist ja schön und gut, dass der Bezirk in Sachen Sanitäranlagen etwas tun möchte, aber muss es auf der einzigen Wiese sein, die es am Paul-Linke-Ufer gibt?“, fragt sich Rita. Informiert wurden die Anwohner*innen nicht über die Installation des Toilettenhäuschens (wir berichteten).
„Der Bezirk kann Beteiligung noch nicht so gut“, findet Fiete. Da gebe es Verbesserungsbedarf. Es reiche zum Beispiel nicht, ein Beteiligungsprotokoll online zu stellen – es brauche „eine Koordinationsstelle mit zivilgesellschaftlichem Mandat in jedem Kiez“. Damit meint er eine unabhängige Schnittstelle zwischen Bürger*innen und Bezirksamt: eine paritätisch besetzte Stelle, die Aktive vernetzt und gleichzeitig mit der Verwaltung kommuniziert, ohne von ihr abhängig zu sein. Die Leute in der direkten Nachbarschaft seien Expert*innen für die Themen, die sie direkt betreffen. Da müsse es einen viel „intensiveren und kokreativen Wissensaustausch“ geben.
„Gesellschaftstag“ für Alle. Das Konzept „Ehrenamt“ sehen die beiden Engagierten kritisch. Statt Ehrenamt sollte es „Gesellschaftsdienst“ heißen, findet Fiete und plädiert für eine Vier-Tage-Woche und einen „Gesellschaftstag“. Viele Menschen könnten sich nicht engagieren und beteiligen, weil sie es sich schlicht zeitlich nicht leisten können. Teilhabe müsse generell eine höhere Priorität in der Gesellschaft bekommen – auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: auf Augenhöhe mit der Verwaltung und (laut Fiete) „intrinsisch motiviert“.
- Den Einwohner*innenantrag des „Reichenberger Kiezblocks“ finden Sie hier.
- Die „Kiezblocks“ sind eine berlinweite Kampagne des Vereins Changing Cities. Nach dem Vorbild der „Superilles“ (Superinseln) in Barcelona sollen bis zur Wahl im September 180 Kiezblocks in Berlin umgesetzt werden. Bisher gibt es etwa 36 (Übersicht hier). Kiezblocks sind Wohngebiete ohne Kfz-Durchgangsverkehr. Das heißt auch, dass Autofahrer*innen einen Kiez nicht als Abkürzung benutzen sollen. Umgesetzt werden soll das durch Modalfilter wie Durchfahrtssperren, Einbahnstraßen oder Tempolimits. Der Verkehr soll stattdessen auf die Hauptstraßen gelenkt werden, damit Menschen den öffentlichen Raum anders nutzen können. Doch das Projekt erntet auch Kritik von Berliner*innen und der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Mehr dazu lesen Sie hier: zeit.de.
- Zum Toilettenhäuschen und dem Dilemma mit der geplanten Wildblumenwiese gibt es in diesem Newsletter auch eine Kiezkamera.
- Wenn Sie gerade einen Gedankenblitz haben, wer hier bald mal vorgestellt gehört, schreiben Sie mir. Hier meine Mail: leute-c.bodisco@tagesspiegel.d
e.
Foto: Screenshot vom Video-Call. Im Uhrzeigersinn: Rita König, die Newsletter-Autorin und Fiete Rohde.