Nachbarschaft

Veröffentlicht am 03.06.2021 von Nele Jensch

KIGE ist „im Einsatz für das Kiezgewerbe“: Die gemeinwohlorientierte Anlaufstelle für Gewerbemieter*innen in Xhain bietet Unterstützung, wenn Geschäften und Betrieben Verdrängung droht. Denn längst liegen nicht nur Wohnraum im Fokus von Immobilienspekulant*innen, sondern auch Gewerbeflächen – von Buchhandlungen bis zu Kitas. Stefan Klein, Geschäftsführer von KIGE, erzählt, wie man sich wehren kann.

Warum ist Gewerbeschutz in Berlin so wichtig? Die Immobilienspekulation wirkt sich auch massiv auf das Kleingewerbe aus. Durch steigende Mieten, immer kürzere Vertragslaufzeiten und Verträge, die einfach nicht verlängert werden, verlieren viele Gewerbetreibende ihre Existenz. Das hat Folgen für unsere Kieze. Sie veröden oder werden, wie wir es in Friedrichshain-Kreuzberg erleben, zu rein touristischen Gastro-Zonen. Damit verschwindet aber auch die Nahversorgung der Nachbarschaft, die auf ihre Bäckerei, den Blumenladen und die Buchhandlung verzichten muss – genauso wie auf Handwerksbetriebe, soziale Einrichtungen und mittlerweile sogar Arztpraxen.

Was können Gewerbetreibende tun, wenn sie von Verdrängung bedroht sind?Wir raten, aktiv zu werden, also die Kund:innen zu informieren, Unterschriftenlisten auszulegen, sich mit anderen Gewerbemieter:innen zu vernetzen. Wichtig ist es, aus der Gemeinschaft und der Öffentlichkeit Stärke zu ziehen, um den Vermieter:innen etwas entgegensetzen zu können.

Mieter*innen von Wohnraum sind in Milieuschutzgebieten deutlich besser geschützt als Gewerbetreibende – können Sie erklären, inwiefern genau? Für Gewerbemieter:innen existiert grundsätzlich keine gesetzliche Beschränkung von Mieterhöhungen und kein Schutz vor Verdrängung. Ob ihr Geschäft in einem Milieuschutzgebiet liegt oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Es gibt quasi kein Regelwerk: Vermieter :innen können einen Vertrag mit sechs Monaten Frist kündigen oder bei Auslaufen von befristeten Verträgen die Miete unbegrenzt erhöhen. Wir hatten Fälle, bei denen die Miete verdreifacht werden sollte oder ein neuer Vertrag mit einmonatiger Kündigungsfrist angeboten wurde. Einmal bot die Vermieterin keine Verlängerung an, weil sie das jahrelang gut laufende Geschäft des Mieters selbst übernehmen wollte – und es ist ihr gelungen. 

An wen richtet sich das Angebot von KIGE – und müssen die Ratsuchenden etwas für die Unterstützung bezahlen? Wir beraten Gewerbemieter:innen in ganz Berlin, haben unseren Schwerpunkt aber in Friedrichshain-Kreuzberg. Hier unterstützt uns das Amt für Wirtschaftsförderung mit Geld für unsere Arbeit. Unsere Beratung ist immer kostenfrei, für Spenden sind wir deshalb auch dankbar.

Wie sieht Ihre Unterstützung konkret aus? Wir bieten eine Grundberatung, die meistens damit beginnt, den Mietvertrag zu erklären. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Gewerbetreibende ihren Mietvertrag nicht verstehen. Das ist nicht ungewöhnlich und keine Schande – wenn eine kleine Schreibwarenhandlung einen 36-seitigen Vertrag erhalten hat, ist sie selbstverständlich überfordert. Wenn die rechtliche Grundlage klar ist, informieren wir über bestehende Hilfsangebote und entwerfen mit den Mieter:innen gemeinsam einen Plan, der auch Unternehmensberatung und manchmal Coaching einschließt. Wenn es um Vertragsverlängerungen oder neue Verträge geht, begleiten wir Gewerbetreibende gern in den Verhandlungen. Vielen von ihnen fällt es schwer, dort ihre Wünsche und Forderungen zu äußern. Wir können als Vermittlerin auftreten, stehen aber ganz klar auf der Seite unserer Leute. 

Manchmal informieren wir auch die Medien über das Vorgehen der Vermieter:innenseite. Bei allzu dreisten Vermieter:innen vernetzen wir uns mit Initiativen vor Ort oder wurden ohnehin zuvor von denen auf den Plan gerufen. Dann melden wir auch Versammlungen vor dem Geschäft an, um die Öffentlichkeit über das Treiben zu informieren.

Die Pandemie hat die Lage für viele Gewerbemieter*innen zusätzlich verschärft: Die Einnahmen brachen durch die Lockdowns massiv ein, staatliche Hilfen kommen häufig mit großer Verzögerung oder überhaupt nicht – hilft KIGE auch in diesen Fällen? Selbstverständlich! Wir erläutern die Hilfsmöglichkeiten, verhandeln mit Vermieter:innen über Mietnachlässe oder zumindest Stundung und vermitteln bei Bedarf an Fachleute. Im schlechtesten Fall raten wir auch zur Insolvenzberatung – manchmal ist es besser, wenigstens ohne private Schulden aus der Krise herauszukommen.

Wie ist die Idee für KIGE entstanden? Wir haben im Zuge der Mieter:innenbewegung erlebt, wie unsere einfache Bäckerei „Filou“ von ihrem Standort verdrängt werden sollte. Der damalige Vermieter meinte, sie passe nicht mehr in den Kiez, er wollte etwas Anspruchsvolleres. Dagegen hat sich die Nachbarschaft mit Händen und Füßen gewehrt, und die Bäckerei gibt es bis heute. Uns wurde damals klar, dass wir nicht nur bezahlbaren Wohnraum kämpfen sollten, sondern auch für bezahlbaren Gewerberaum und unsere normale Nahversorgung. 

Für wen engagieren Sie sich zur Zeit? Für viele kleine Läden, aber auch für Gewerbetreibende, die schon sehr lange um ihre Mietverträge kämpfen. Da ist zum Beispiel die Buchhandlung „Kisch & Co.“, die mittlerweile eine Räumungsklage verloren hat. Aber da ist auch die Sportschule „Yayla“, die wir seit drei Jahren unterstützen. Jetzt hat uns der Vermieter signalisiert, dass wir zu einer Einigung kommen werden. Das wäre für den Kiez und den Bezirk ein großer Erfolg, denn hier geht es nicht nur um ein Geschäft, sondern um Kinder und Jugendliche, die nach der Pandemie wieder ein tolles Umfeld finden würden.

  • Wenn Ihr Geschäft oder Betrieb in Schwierigkeiten steckt, können Sie sich natürlich an KIGE wenden. Entweder per Mail (beratung@kiezgewerbe.de), Webformular oder telefonisch: 030/235 932 930. Mehr Infos auf kiezgewerbe.de
  • KIGE kann finanzielle Unterstützung gut gebrauchen und freut sich über Spenden: gofundme.com

 

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