Nachbarschaft

Veröffentlicht am 29.07.2021 von Corinna von Bodisco

Weiche Bewegungen, innere Kraft und bewusstes Atmen gehören zum Alltag von Vera Klar: Seit 37 Jahren praktiziert die Berlinerin Taiji (gesprochen auch Tai Chi), seit 20 Jahren lehrt sie die chinesische Kampf- und Lebenskunst in Parks. Der Unterricht tut gut, klingt sehr berlinerisch und ist zuweilen gespickt mit chinesischen Wörtern. Ein Gespräch über Ängste, Abwehr und den Viktoriapark. 

Wie bist du zum Taiji gekommen? „Ich habe schon immer Sport gemacht, zunächst war es der Tanz, vor allem Bauchtanz. Nach meinen drei Kindern habe ich mich mit meinem Bauch erst mal nicht anfreunden können, aber die Resonanz war immer: Natürlich sieht man, dass du Kinder hast, aber es sieht trotzdem schön aus. Seitdem kann ich auch meinen Bauch zeigen ohne mich zu schämen. 

Die Verbindung zum Taiji kam so: Früher konnte ich nicht frei reden – weder in Gruppen oder im Gespräch wie jetzt mit dir. Ich hatte viele Ängste und deswegen das Bedürfnis Kung Fu zu lernen. Damals hatte ich aber nur einen Taiji Lehrer zur Verfügung. Das war dann aber der Schlüssel für mich, um endlich ohne Angst reden zu können. Es ist ja auch nicht schlimm, sich selbst mal zu korrigieren. Diese Erfahrung hat mich sehr gestärkt und ich bemerke dasselbe bei den Menschen in meinen Taiji-Kursen. Sie sind mutiger, ehrlicher und trauen sich, ihre Schwächen zuzugeben. Auch das muss man können.“ 

Sollten also mehr Menschen Taiji machen? „Ja, denn wenn der ganze Körper aufgerichtet wird, richtest du dich innerlich auch auf. Taiji fungiert also als Spiegel zwischen Außen und Innen. Die beim Taiji erlangte Ruhe kann man jederzeit in anderen Situationen herstellen. Wenn irgendwo Gefahr oder Chaos ist, kann man sich erden und sich rausziehen – selbst in einer Menge.“ 

Das klingt sehr friedlich, aber Taiji ist doch eigentlich eine Kampfkunst. Wie geht das zusammen? „Es ist eher Selbstverteidigung und eine Abwehrmöglichkeit. Wir lernen keinen Angriff und brauchen keine Muskelkraft, stattdessen nehmen wir die Kraft des Gegners nur auf und leiten sie weiter. Was Personen uns zufügen wollen, geben wir potenziert zurück. Das alles wird durch die Atmung begleitet und die Bewegungen sind im Grunde immer rund, weich und geschmeidig. Wenn jemand aber mit der Faust in mein Gesicht schlägt, gibt es natürlich Abwehrbewegungen. Doch der Ursprung von Taiji liegt nicht im Kampf.“

Sondern? „Der Ursprung ist darauf ausgerichtet, die Meridiane (nach der traditionellen chinesischen Medizin Kanäle, in denen Lebensenergie, das „Qi“, fließt, Anm. d. Red.) zu befreien. Durch die Bewegungen und die Atmung wird beispielsweise der Bauch und der Darm massiert. Dadurch regenerieren wir unseren Körper und verjüngen ihn. Natürlich können solche Bewegungen auch nützlich beim Kampf sein.“ 

Was lernen deine Schüler*innen in den Kursen? „Wir fangen von oben nach unten an, unsere Körper mit ganz leichten Übungen etwa 30 Minuten zu lockern und zu dehnen. Die meisten Übungen sind aus dem „Qigong“ und aus der Rückenschule. Auch Koordination spielt eine Rolle. Die Stunde danach lernen wir Vorwärts- und Rückwärtsschritte, üben die sogenannte 24er-Peking-Form oder Formen mit Fächer und Schwert.“

Du unterrichtest das ganze Jahr ausschließlich im Freien. Was ist besser draußen? „Taiji wurde traditionell immer im Freien gemacht. Dass ich nur noch draußen unterrichte, ist Corona geschuldet. Doch eigentlich klappt das hervorragend. Man nimmt auch die Tiere und die Farben der Natur wahr und baut es in die Praxis mit ein.“ 

Seit wann gibst Du Kurse im Viktoriapark, was verbindest Du mit dem Ort? „Ich kenne den Park und die Gegend schon sehr lange. 1984 bin ich hergezogen. Den Park mag ich sehr gern, weil er so viele verschiedene Ebenen hat. Beim Platz, den ich gerade für die Kurse ausgewählt habe – an der Methfesselstraße – sind ringsherum Bäume. Wenn es heiß ist, muss man nicht in der prallen Sonne stehen. Es ist hügelig und die Wiesen sind nicht total gerade. Dadurch muss man achtsamer sein beim Trainieren. Aber der Park kann auch eng werden und er hat sich seit damals verändert. Es fehlen beispielsweise öffentliche Toiletten. Früher gab es mal eine an der Ecke Kreuzberg-/ Katzbachstraße.“

Einer deiner Anfänger*innen-Kurse läuft über den Verein Nadeshda e.V. Was ist das für ein Verein und wie bist Du auf ihn gekommen? „Eine Schülerin von mir arbeitet dort. Es geht dabei um den Austausch unterschiedlicher Kulturen, der Verein wendet sich vor allem an Zugewanderte mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, beispielsweise Hörgeschädigte oder auch Personen mit schwachem Einkommen. Sie können über den Verein kostenfrei an meinen Kursen teilnehmen. Besonders wichtig ist mir, dass Menschen, die nicht so schnell lernen, nicht zu kurz kommen. Jede und jeder lernt im eigenen Tempo. Wichtig ist das Machen, bei mir kommen alle unter.“ 

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