Nachbarschaft
Veröffentlicht am 05.08.2021 von Corinna von Bodisco
Carmen Grimm ist Fußballtrainerin in Berlin. Seit 2011 ist sie immer wieder Teil des ehrenamtlichen Teams von Discover Football, dem Frauen*-Fußball-Kultur-Festival, das vom 5.-8. August im Kreuzberger Willy-Kressmann-Stadion stattfindet.
Vier Tage, 70 internationale Spieler*innen, Workshops, Turnierspiele… und Discover Football wird ehrenamtlich organisiert – wie schafft man das? „In den letzten Monaten hat es vor allem eine gute Internetverbindung und viel Kopfzerbrechen benötigt. Pandemiebedingt mussten wir die Planungsmeetings natürlich weitestgehend online abhalten und spontan auf die sich ändernden Umstände reagieren. Das ist ja in vielen Bereichen eine Herausforderung für das Ehrenamt gewesen. Es braucht also wirklich eine ordentliche Packung Tatendrang, Durchhaltevermögen und Kreativität. Mittlerweile ist es außerdem das Erfahrungswissen und das Netzwerk in Berlin und darüber hinaus, das es möglich macht, so ein Event größtenteils ehrenamtlich zu organisieren.“
Wie kam es zu dem Namen Discover Football? Wen möchtet Ihr ansprechen und was soll entdeckt werden? „Der Name entstand für das erste Turnier im Jahr 2010 – ein Rückspiel der Begegnung zwischen einem Berliner und einem Teheraner Team. Diese erste Begegnung im Jahr 2006, das erste öffentliche Frauen*-Fußballspiel in Teheran seit 1979, ist im Film ‚Football Undercover‚ festgehalten. ‚Discover Football‘ ist also auch ein Verweis auf diesen Film, den die Gründer*innen vom Verein selbst gedreht haben. Er wird dieses Jahr übrigens wieder gezeigt!
Und zur weiteren Bedeutung des Namens: Bei den Veranstaltungen von Discover Football geht es unter anderem darum, dass Berliner Kinder in einem spaßorientierten Kontext Fußball entdecken können, dass kritisch auf Fußballstrukturen geschaut wird, dass Menschen herausfinden können, was Fußball in ihren Kontexten und für ihre feministischen Kämpfe bedeutet, und wie wir gemeinsam Utopien ausfindig machen können. Es ist also nicht ‚discover‘ im Sinne von ‚entdecken‘ gemeint – sondern hinterfragen, auftun, ergründen und finden.“
Auf Eurer Webseite steht, Frauen* sollen sich ermutigt fühlen, Fußball zu spielen „abseits von patriarchalen Hierarchien“. Aber ist Fußball nicht per se patriarchalisch geprägt, was denken Sie? „Toller Gedanke! Ich muss zustimmen, dass Fußball nicht nur an der Oberfläche – sondern tief verankert so geprägt ist, dass viele, oder sogar die meisten, Lebens-, Liebes- und Spielformen hinausgedrängt, benachteiligt, verneint oder gewaltvoll ausgeschlossen werden. Das System Fußball weist ja nicht nur Frauen* bestimmte Plätze zu, sondern kanalisiert und schafft auch viele weitere und überlappende Formen des Ausschlusses und der Ausbeutung.
Ich würde jedoch nicht jede Woche auf dem Trainingsplatz stehen, wenn ich nicht auch daran glauben würde, dass wir ’sichere Orte‘ für das konkrete Fußballspielen – oder auch das Fansein – schaffen können und dass uns das gemeinsame und kommunikative Spiel auch und unter bestimmten Bedingungen zusammenbringen, beleben und inspirieren kann. Mich hält die Überzeugung dabei, dass wir für Veränderungen eintreten müssen und dass es Veränderung auch bereits gibt.
Bei Discover Football lerne ich Gruppen kennen, die das tun – und geschichtliche Fakten, die mich inspirieren. Zum Beispiel haben 1920 bereits mehr als 50.000 Menschen bei einem Ligaspiel der Frauen* zugeschaut. Ja! Ohne Verbote und Backlashes würde der heutige Fußball also ganz anders aussehen. Das deutet doch auf die Veränderbarkeit des Fußballs und stimmt nicht nur traurig, sondern auch hoffnungsvoll, oder?“
Wie funktioniert das bei den Turnierspielen mit den Teams? Sind die Teams nach Nationalitäten geordnet? „Das ist bislang jedes Mal etwas anders gewesen. Es entstehen immer neue Ideen. Zu Beginn haben die teilnehmenden Teams gegeneinander gespielt. Das Zeigen eines Wettkampfes und das Normalisieren von fußballspielenden FLINT* (das Akronym steht für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre und trans Personen – laut missy-magazine.de „Personen, die aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität patriarchal diskriminiert werden“, Anm. d. Red.) im Berliner Stadtbild spielte damals noch eine große Rolle. Um den Austausch, das Kennenlernen und Erproben verschiedener Fußballpraxen zu begünstigen, werden die Teams nun jedoch seit einigen Jahren vor Ort gemischt. Die Anzahl der Spiele und der Turniermodus werden immer wieder neu diskutiert und angepasst. Dieses Jahr wird es drei volle Turniertage in täglich ausgelosten Teams geben. Eine spannende Herausforderung für die Coaches und Schiris.“
Apropos FLINT* Personen: Welche Rolle spielt Diversität bei Euch? „Vielleicht lässt sich das gut an diesem Beispiel zeigen: Bei den Turnieren entsteht oft die Erzählung, dass FLINT* an fast keinem Ort der Welt diskriminierungsfrei Fußball spielen können. Das macht unter anderem die Stärke des Events aus und hilft, um gemeinsam Forderungen zu formulieren. Gerade an dieser Stelle ist dann ein diversitätssensibler Ansatz total wichtig, um zu verhindern, dass über die Besonderheiten und Positionen der einzelnen Ligen, Vereine, NGOs, Personen und Kontexte hinweggesehen wird. Der Zugang zu Ressourcen ist ungleich verteilt – generell und auch im Hinblick auf die Organisation des Events. Das muss benannt und beachtet werden.“
Was bedeutet das in Bezug auf die Spieler*innen des Festivals? „Alleine in diesem Jahr treffen sich Personen mit unterschiedlichen geschlechtlichen und sexuellen Identifizierungen, vom Amateur- bis zum Profiniveau: Personen, die für LGBTIQ* eintreten in Spanien, in der Türkei und in Kenya; Personen, die Mental Health in Refugee Camps in Jordanien thematisieren; Personen, die in ihren Verbänden bessere Lizenz-Ausbildungen kämpfen, und Personen, die in Berlin Freizeitkicker*innen sind. Und die Gruppe könnte noch auf viele weitere Weisen beschrieben werden. Konkret heißt das also, Räume zu schaffen, in denen alle Beteiligten ihre Themen, ihre Forderungen, ihre Anliegen und ihre Kritik vertreten, voranbringen und vermitteln können. Es heißt auch, Rollen zu tauschen, fluide zu bleiben und keinen Einheitsbrei anzustreben: Die ‚Dragones de Lavapiés‘ aus Madrid beispielsweise, die am Festival teilnehmen, werden in den kommenden Monaten ein eigenes transnationales Projekt aufziehen, in dem wiederum Discover Football die Seite wechseln und eine von mehreren Partnerorganisationen sein wird.“
Foto: Alexa Vachon
- Das Programm umfasst Workshops, Trainingseinheiten, ein Mädchen*-Fußballcamp für Berliner Kinder, Konzerte, Panel Diskussionen sowie ein dreitägiges Fußballturnier in neu gemischten Teams.
- Einlass nur mit negativem Testergebnis (Testbike vorm Stadioneingang). Darüber hinaus gelten die Corona-Regelungen des Landes Berlin.
- Donnerstag, 05.08.: 20 Uhr Open Air Kino: Football Undercover mit Q & A der Filmemacherinnen
- Freitag, 06.08.: 14-18 Uhr Turnierspiele; 19 Uhr Podiumsdiskussion zu den Auswirkungen der Pandemie; 20 Uhr female* Hip Hop Konzerte u.a. Carmel Zoum
- Samstag, 07.08.: 14-18 Uhr Turnierspiele; 19 Uhr Podiumsdiskussion: Fußall Strukturen positiv verändern, u.a. mit Gästen der #kickout Kampagne
- Sonntag, 08.08.: 14-18 Uhr Turnierspiele
- Ort: Willy-Kressmann-Stadion im Victoriapark, Eingang über Katzbachstraße/Viktoriapark
- Webseite des Festivals: www.discoverfootball.de
- Wenn Sie gerade einen Gedankenblitz haben, wer hier bald mal vorgestellt gehört, schreiben Sie mir. Hier meine Mail: leute-c.bodisco@tagesspiegel.de.
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