Nachbarschaft

Veröffentlicht am 25.04.2024 von Robert Klages

Koray Yılmaz-Günay schaut sich ganz genau um, für einen kurzen Moment ist er abwesend, nicht ansprechbar. Man sieht, wie er sich an ein vergangenes Leben erinnert. Dann erzählt er, als Kinder seien sie in diesem Hinterhof mit ihren Rädern im Kreis gefahren. Heute parken hier die Autos von mehrerer Start-Up-Unternehmen.

Der 49-Jährige ist in der Oranienstraße in Kreuzberg aufgewachsen, als Sohn von Gastarbeiter:innen. Heute ist er Vorstandsmitglied des Migrationsrats Berlin-Brandenburg und Teil der Gruppe „Daughters and Sons of Gastarbeiters“, die Lesungen in ganz Deutschland veranstaltet und ihre Perspektive erzählt, aus der Sicht der „Zweiten Generation“ von Gastarbeiter:innen. Wir reden mit ihm über den Tod, Rassismus, Kämpfe gegen Neonazis und das neue Leben in Kreuzberg.

„Dieses Kreuzberg ist wie eine fremde Stadt für mich“, sagt Yılmaz-Günay und schaut die Straße hinunter. Den Club „SO36“ habe es damals schon gegeben. Aber sonst nichts, alles sei anders. Das ganze migrantische Gewerbe sei verdrängt worden. „Damals wurden wir beleidigt, weil wir Türkisch gesprochen haben“, erinnert er sich. „Heute sprechen in Kreuzberg alle freiwillig Englisch und Spanisch und das ist cool.“ Es gebe neue Bars und Restaurants, die so tun, als seien sie hier alteingesessen, die sich absichtlich heruntergekommen präsentieren.

„Diese Ästhetik der Armut ist mir unsympathisch. Denn wir haben früher wirklich so gelebt wie das, was heute imitiert wird.“ Kreuzberg sei jetzt „Innenstadt“. Zu seiner Kindheit war es West-Berlin, nahe der Mauer. Die Wende kam, als Yılmaz-Günay 15 Jahre alt war. Er erinnert sich an Schlägereien mit Neonazis, die nun aus dem Osten nach Kreuzberg kamen.

„Es war, als müssten wir Kreuzberg verteidigen. Etwas verteidigen, was uns eigentlich nicht wollte.“ Er habe ordentlich mitgemischt damals, eingesteckt sowie ausgeteilt. „Für Punks, Obdachlose und Migranten wurde es gefährlich in Kreuzberg, da mussten wir gegenhalten.“ Es ist auch die Zeit der Jugendbande „36 Boys“, benannt nach dem Kiez, in dem Yılmaz-Günay aufwuchs. Anfang der 1990er Jahre lieferte sich die Gruppe Revierkämpfe mit Neonazis und Skinheads.

Alltag sei das damals gewesen, erzählt Yılmaz-Günay. „Die oder wir, das war kein Hobby.“ Der 1. Mai sei nur ein Tag von vielen gewesen. Und eine Polizeiwache habe es am Kottbusser Tor noch nicht gegeben. Es waren Grabenkämpfe: vor und zurück. Aber nicht aufgeben, niemals würde Kreuzberg den Neonazis gehören. Niemals. Yılmaz-Günay fragt, wie dieses Teil noch einmal heiße, dass man sich um die Finger mache, aus Metall. Genau, ein Schlagring. Er schaut auf den Boden, atmet tief durch.

„Ist Kreuzberg Ihre Heimat?“ Die Frage scheint in Yılmaz-Günay einzudringen wie der Bohrer eines Zahnarztes. Im März 1973 kam sein Vater als Schweißer in die Oranienstraße. Die Häuser sollten eigentlich abgerissen werden, dienten dann aber zahlreichen Gastarbeiter:innen als Unterkunft. Deutschland holte sie sich als günstige Arbeitskräfte ins Land, hauptsächlich aus der Türkei und Südeuropa. Viele wollten für zwei oder drei Jahre bleiben, Geld verdienen und dann zurück.

Ebenfalls 1973 beschloss Deutschland einen Anwerbestopp für Gastarbeiter:innen aus Nicht-EU-Ländern wie der Türkei. Bei vielen Familien brach Panik aus und es musste schnell entschieden werden, ob man bleibt oder zurückgeht. Oder ob man schnell noch die Familie nachholt, die Kinder, den Bruder, die Frau. Ob man noch schnell heiratet. Bei Yılmaz-Günay kamen einen Tante und ihr Kind, sie waren nun zu acht in der Drei-Zimmer-Wohnung. Und dann wurde Koray Yılmaz-Günay geboren. Seine Mutter war zunächst Zimmermädchen im bekannten „Hotel Berlin“ am Lützowplatz, später Fabrikarbeiterin.

Der Vater lebt heute in Charlottenburg, die Mutter überwiegend in der Türkei. Koray Yılmaz-Günay nickt. Ja, so sei das jetzt. Die „erste Generation“ von Gastarbeiter:innen würde nicht beschäftigen, wo sie leben wollen, oder was ihre Heimat sei. Sondern, wo sie bestattet werden wollen. In der Türkei würde vielleicht niemand zum Grab kommen, denn alle Kinder sind in Deutschland, aber die Türkei ist das Land ihrer Eltern, dort sind sie aufgewachsen.

„Wo kommen Sie her, also so wirklich, so ursprünglich?“ Fragen wie diese möchte Yılmaz-Günay nicht mehr hören. Und es sei ein Unterschied zwischen seiner „Zeiten Generation“ von Gasterarbeiter:innen und der „Ersten Generation“. So würden seine Eltern auf diese Fragen schlicht ihren Geburtsort in der Türkei nennen. Für ihn und seine Generation sei das nicht so einfach, denn „die Frage beinhaltet für uns immer auch eine andere Frage, nämlich: Wann gehen Sie wieder?“.

  • (Übrigens muss die Polizei in Berlin einem Mann Entschädigung zahlen, weil ein Polizist vehement nachgefragt hatte, wo er „wirklich“ herkomme, da ihm die Antwort „Bochum“ nicht ausreichte. Ein erstes Urteil auf Grundlage des Antidiskriminierungsgesetzes, hier nachzulesen auf tagesspiegel.de.)

„Diese Fragen sind grenzüberschreitend“, findet Yılmaz-Günay. Er antworte meistens, dass er aus dem Bauch seiner Mutter komme. Aber viele Menschen würden weiter bohren: „Wo kommt Ihr Name her? Woher stammen Ihre Eltern?“ Damit würde man immer wieder auf seine Herkunft reduziert, sagt er. Viele könnten das vielleicht nicht nachvollziehen, aber wenn man es fast täglich gefragt werde, dann nerve es nicht nur. Mehr als das, es führe zu einer Entfernung, zur Distanzierung. „Wenn ich einem Herrn Schmidt begegne, frage ich ihn doch auch nicht gleich, wo er herkommt. Und wenn er sagt, aus Berlin, dann frage ich doch nicht nach seinen Eltern oder seinem Namen.“

Auch das ist Teil des Programms von „Daughters and Sons of Gastarbeiters“. Sie erzählen ihre Geschichten selbst, entscheiden selbst, was sie erzählen und wie sie es präsentieren möchten. Mal kurzweilig, mal nachdenklich, mal ernst. Das Kollektiv wurde 2015 gegründet, als die Gewalt gegen Migrant:innen anstieg, als 924 Straftaten gegen Asylunterkünfte gezählt wurden. 

Die „Daughters and Sons“ interviewten ihre Eltern, kramten Fotos raus und beschäftigen sich mit der eigenen, persönlichen Geschichte. „Es hat mir die Möglichkeit gegeben, eine sinnvolle Lebensgeschichte zu erhalten, sagt Yılmaz-Günay im Fahrstuhl. Ebenfalls in der Oranienstraße befindet sich sein Büro. Er stößt die Tür auf und spricht Englisch. Der Migrationsrat Berlin-Brandenburg ist eine Dachorganisation von über 70 Selbstorganisationen für migrantisches Leben. Er setzt sich ein für die „völlige rechtliche, soziale und politische Gleichstellung und Teilhabe von Migrant:innen, ihren Nachfahren und anderen People of Color“. Yılmaz-Günay macht sich einen Kaffee. „Viel zu tun, wie immer.“ – Foto: Robert Klages