Kiezkamera
Veröffentlicht am 27.01.2020 von Robert Klages
„Tiere werden gezählt – Menschen muss geholfen werden“. Am Mittwoch sollen die Obdachlosen in Berlin gezählt werden. Ziel der „Nacht der Solidarität“ vom 29. zum 30. Januar 2020 ist es, erstmals Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie viele Obdachlose in Berlin tatsächlich leben. Bisher weiß das niemand. Fachleute gehen davon aus, dass es mehrere Tausend sind und ihre Zahl zuletzt stetig stieg. Die Zählung findet in Gruppen aus jeweils mindestens drei Personen statt.
Rund 500 Teams sollen ausschwärmen – angeleitet von Teamleiter*innen. Die Zählung wird in der Zeit von 22 bis etwa 1 Uhr stattfinden. Die Teilnehmer müssen mindestens 18 Jahre alt sein und sollten drei Stunden zu Fuß unterwegs sein können. Wird sich durch die Zählung etwas ändern?
Die „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“ sagt: Nein – und hat für Mittwoch eine Kundgebung vor dem Roten Rathaus angemeldet, von 18 bis 22 Uhr. Wohnungslose Menschen und Sympathisant*innen werden auf dieser Kundgebung ihre Kritik an der Zählung vortragen und darlegen, was aus ihrer Sicht getan werden muss. Zeitgleich finden zwei Protest-Mahnwachen vom „Wohnungslosenparlament in Gründung“ ebenfalls vor dem Roten Rathaus sowie vor dem Reichstag statt. Hier die Kritik an der Zählung aus einer Pressemitteilung der Selbstvertretung:
- Aus Sicht von wohnungslosen Menschen ist die Zählung bedrohlich. Fremde Menschen in Gruppen durchstreifen den öffentlichen Raum und sprechen beliebig Menschen an, die sie für obdachlos halten.
- Es ist für Menschen, die auf der Straße leben, ein würdeloser Vorgang, gezählt zu werden, ohne dass die Situation grundlegend verändert wird.
- Der Nutzen der Zählung ist für wohnungslose Menschen nicht erkennbar.
unauffällige obdachlose Menschen werden gar nicht erkannt.
Menschen werden aufgrund von Zuschreibungen und Wertungen als obdachlos eingestuft, obwohl sie gar nicht obdachlos sind.
jemand, der nicht gezählt werden will, wird sich der Zählung entziehen
Menschen, die sich in Parks, Dachböden, Kellern, Kleingartenanlagen, im Wald usw. aufhalten, werden auch gar nicht erfasst.
wir befürchten, dass die verschiedenen Teilgruppen obdachloser Menschen gegeneinander ausgespielt werden sollen, z.B. Menschen aus anderen Ländern und Menschen ohne Papiere, Leistungsansprüche usw. - Der Senat beschränkt seine Zählung selbst, in dem er festlegt: „Wir gehen nicht in die Parks, wir gefährden uns nicht selbst“. Das bestätigt unser Argument, dass die Zählung als Bedrohung angesehen wird.
- Wir bezweifeln, dass die Zählung überhaupt den gewünschten Erfolg haben wird.
- „Steuerung der Unterbringung wohnungsloser Menschen“ – mit dieser menschenverachtenden Formulierung begründet der Senat seine Zählung. Die Zählung hat eine Alibi-Funktion: Tiere werden gezählt – Menschen muss geholfen werden. Im Fall von wohnungslosen Menschen muss das eine Wohnung sein.
- Die Wohnungspolitik des Senats ist mit verantwortlich für die erhebliche Zunahme der
Wohnungsnot und Obdachlosigkeit. Jeden Tag werden in Berlin einzelne Menschen und Familien zwangsgeräumt. Und für Menschen ohne Wohnung ist es gegenwärtig nahezu aussichtslos, eine eigene und bezahlbare Wohnung finden zu können. - Wir können nicht erkennen, dass der Senat auf Grundlage der Zählung bezahlbare und
menschenwürdige Wohnungen schaffen bauen oder erwerben wird. - Die Menschen von der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen wollen ihren Beitrag leisten zur Überwindung von Wohnungslosigkeit, Wohnungsnot und Hilflosigkeit. Statt auszuschwärmen und die Stadt zu durchsuchen, wäre es sinnvoller, einladende Anlaufpunkte zu schaffen, in denen obdachlose Menschen freiwillig ihre Bedarfe und Wünsche und Vorstellungen äußern können. Öffentliche Orte, an denen das möglich wäre, gibt es in Berlin genug, z.B. Schulen, Bibliotheken, Rathäuser.
- In dem 5-Punkte-Programm aus dem Jahr 2018 hat die Selbstvertretung angeboten und vorgeschlagen, dass sich wohnungslose Menschen aktiv in den Wohnungsbau einbringen wollen, sowohl bei der Planung als auch bei der Durchführung.
- Grundsätzlich wichtig und richtig, dass das Problem eine hohe Aufmerksamkeit bekommt, dass etwas zur unmittelbaren Hilfe für obdachlose Menschen getan wird und dass die Aufgabe der Schaffung von bezahlbaren Wohnungen für wohnungslose Menschen in Angriff genommen wird. Allerdings haben wir – wie oben genannt – erhebliche Zweifel, ob eine Zählung der richtige Weg ist.
- Wir laden während der Nacht der Solidarität zu einer Kundgebung und Mahnwache vor dem Roten Rathaus in Berlin. Wir laden die Berliner Bevölkerung dazu ein, sich mit Schlafsäcken, Decken und Isomatten an unserer Kundgebung zu beteiligen. Wir möchten mit allen über unsere Sichtweise ins Gespräch kommen. Wir werden allen obdachlosen Menschen gedenken, die auf der Straße verstorben sind.
Foto: Robert Klages
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