Kultur

Ab wann ist Kunst "Teil" einer Ausstellung? Wind aus der Rummelsburger Bucht fuhr zur documenta in Kassel

Veröffentlicht am 14.12.2020 von Robert Klages

Letzte Woche hatte ich hier das Kunstduo „Kg Augenstern“ aus der Rummelsburger Bucht vorgestellt. Die Beiden kratzen unter Brücken und nehmen den Sound auf. Aber sie machen nicht nur Brücken. Im Text hatte ich erwähnt, dass sie zur documenta 13, 2012 in Kassel, über 50 Kanister Wind mitgebracht hatten, eingesammelt auf dem Weg nach Hessen – beschriftet mit genauen Angaben zu Ort, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und einem Foto. Danach schrieb ich den Satz: „Die Kanister waren dann Teil der documenta-Ausstellung.“ Mein Text wurde auch in der Hessischen Allgemeinen Zeitung (HNA) gedruckt, für die ich als selbstständiger Journalist schreibe.

Von einer hessischen Leserin erhielt ich die Nachricht, ich hätte falsch recherchiert. Die Künstler*innen von „Kg Augenstern“ seien nie Teil der documenta gewesen. Die Kunstaustellung findet alle fünf Jahre statt, dauert 100 Tage und ist eine der wichtigsten, wenn nicht sogar DIE wichtigste, für moderne Kunst auf der ganze Welt. Ich fahre alle fünf Jahre hin, habe dort früher als Studierender auch gearbeitet – ich bin in der Nähe aufgewachsen.

Ab wann ist Kunst „Teil einer Ausstellung“? Es ist richtig, dass die Kanister-Aktion von „Kg Augenstern“ nicht zum offiziellen Teil der documenta 2012 gehörte, also nicht im Ausstellungskatalog präsent war oder „Kg Augenstern“ von den Kurator*innen eingeladen wurde. Es handelte sich um eine „Guerilla Aktion“, sagen die Künstler*innen. Die Leserin aus Kassel schrieb, es sei Teil der Aktion „Luftfracht“ gewesen, einer Aktion von „bewegter Wind, Verein zur Förderung der Windkunst und interkultureller Kommunikation“, die 2012 in Nordhessen stattfand und die sie organisiert hatte. Verständlich, dass sie es schade findet, dass ihre Veranstaltung keine Erwähnung findet.

Ich mag die documenta sehr. Und ich weiß, dass zur documenta nicht nur gehört, was im Ausstellungskatalog steht, sondern auch, wer oder was sich sonst wie während der Ausstellungstage an der documenta beteiligt: Straßenkünstler*innen zum Beispiel reisen aus aller Welt nach Kassel. Auch regionale und internationale Kunstschaffende jeglicher Couleur sind vor Ort und stellen Werke aus, bestehend aus Performance, Bildender Kunst und vielem mehr. Ebenso wie „Kg Augenstern“, die Kanister voll mit Wind nach Kassel gebracht und dort auf eine Wiese gestellt haben. Ebenso wie die Aktion „Luftfracht“, die demnach ebenfalls Teil der documenta 2012 war.

Es ist nicht nur meine Meinung, dass diese unangemeldete, freie Kunst Teil der documenta ist – es wird auch von der documenta selbst gesagt, dass alle, die während der 100 Tage dabei sind, Teil der documenta sind, und dass die Ausstellungstage dadurch leben, dass Künstler*innen sich ihren Raum suchen – neben den geplanten und kuratierten Ausstellungen. Ohne die zahlreichen antiinstitutionellen und dezentralen Kunstwerke vor Ort wäre die documenta nicht die documenta.

Und diese Art der „Guerilla Kunst“ hat durchaus ihren Charme. Auf dem Foto sehen wir, wie documenta-Besucher*innen neben den Kanistern stehen und versuchen, zu verstehen, was sie hier sehen, Fotos machen. Die Kanister sind also Teil der Ausstellung documenta 13 gewesen – auch, wenn sie nicht kuratiert waren.

„Nirgendwo ist der Kunstbegriff so weit gefasst“, schrieb das Handelsblatt 2012 zur documenta 13. „Wo Wind zur Kunst wird“, war der Titel. In der größten Ausstellungshalle im „Fridericianum“, war nichts weiter ausgestellt als Wind. Hier ein Video. Ich erinnere mich: Man kam rein, keine Kunst zu sehen im ersten, riesigen Saal. Nur ein Windhauch war zu spüren. Natürlich hatte man vorher bereits darüber gelesen – auch, dass die amerikanische Kuratorin im Vorfeld viel Kritik dafür abgekommen hatte. Das Handelsblatt schrieb: „Der junge Brite Ryan Gander lässt tatsächlich nichts als eine Brise durch eine ganze Raumfolge wehen. Ziemlich dürftig für den Auftakt der weltweit wichtigsten Ausstellung zur zeitgenössischen Kunst.“ Es gab also auch kuratierten Wind in der documenta zu sehen. Die Kanister aus der Rummelsburger Bucht voll mit Wind passten thematisch bestens dazu. Sie hatten nur nicht gefragt.

Banksy fragt ja auch nicht, ob er Teil einer Ausstellung sein kann. Der britische Künstler hat beispielsweise heimlich und unangekündigt eine Vitrine mit einer toten Ratte mit Sonnenbrille, Rucksack, Mikrofon und Spraydose in ein Naturkundemuseum gestellt, was erst nach mehreren Stunden auffiel. Oder er hängte ein eigenes Bild im Londoner Tate-Museum auf – was nur auffiel, weil der Klebstoff nicht hielt und das Bild mit Getöse zu Boden ging. Auch in den USA stattete Banksy Museen mit ungewollten Neuerwerbungen aus.

Die documenta in Kassel soll 2022 wieder stattfinden, unter der Leitung eines Kunstkollektivs aus Indonesien. Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass falsche Einladungen an Künstler*innen im Umlauf sind. Die Leitung der documenta bittet Künster*innen, die eine Einladung erhalten haben, sich zu melden. Das war unter anderem in der Zeit zu lesen. Dort heißt es: „Da die Teilnahme an der documenta eine große Auszeichnung ist, können die Fälschungen falsche Hoffnungen wecken.“ Eine Sprecherin der documenta sagt: „Es gibt Künstler, die anrufen oder schreiben, um sicherzustellen, dass die Einladung echt ist und dann sind da natürlich schon Emotionen im Spiel, was wir sehr bedauern.“ Es entstehe so zwar kein materieller, aber doch ein emotionaler Schaden.

Wer hinter den falschen Mails steckt, ist unklar. Aber es scheint eindeutig, dass hier jemand mit der Wertigkeit von Kunst spielt und ab wann diese „Teil“ von etwas ist. Ich würde mich freuen, wenn die Leitung der documenta auch 2022 dabei bleibt, dass alle, die dort sind oder sonst wie teilnehmen, Teil der documenta sind. Auch Kunst, die sich ungefragt auf Wiesen befindet, auch Leute, die keinen Eintritt bezahlen, sondern „nur“ für die Straßenkunst nach Kassel reisen.

Ich würde mich freuen, eine Art „alternative Ausstellung“ zu sehen von den Künstler*innen, die diese falsche Einladung erhalten haben. Das Spiel der kritischen Kunst, wer wann dazugehört, hat begonnen. Ich teile da ohnehin die Einstellung der Künstlerin Finja Sander, die sagte: „Kunst sollte nicht um Erlaubnis fragen.“ Und dies auch nicht tat, als sie Teil der Ausstellung zum Tag der Offenen Tür in der Universität der Künste (UdK) in Berlin wurde, als sie sich nackt auf ein Rollbrett legte.