Nachbarschaft

Veröffentlicht am 30.04.2018 von Robert Klages

Das Gegenteil von Rassismus ist Freude. Gönül Glowinski hat nach wie vor viel Freude an ihrem Leben. Vor zwei Wochen wurden sie und ihr Lebensgefährte vor ihrem Eiscafé im Weitlingkiez rassistisch angegriffen. Zwei Männer haben einen Pitbull auf sie gehetzt. Ich habe Glowinski in ihrem Laden in der Margaretenstraße 27 besucht. Man merkt ihr an, dass es nicht leicht ist, das alles zu verarbeiten. „Mir gefällt es nicht, in der Opferrolle zu sein“, sagt sie. „Ich lasse mich von Rassismus nicht beeinträchtigen.“ Die Polizei sucht derzeit mit einer Täterbeschreibung nach den Männern. Ein Verdächtiger wurde inzwischen identifiziert. Nach dem Mittäter wird weiterhin gefahndet.

„Vielleicht hätte ich früher schreien sollen.“ Gönül Glowinski denkt oft darüber nach, zurückblickend auf den Vorfall und mit Tränen in den Augen. Sie fragt sich, ob ihr dann vielleicht schneller geholfen worden wäre. Es war gegen 20.30 Uhr, Freitag, 20. April 2018. Ihr Lebensgefährte und sie hatten sich eine Pizza von gegenüber geholt, Tisch und Stühle vor den Laden gestellt – Feierabend, etwas entspannen. Der Lebensgefährte räumte noch auf im Lager. „Darfst du da sitzen, hast du eine Genehmigung dafür?“, sagten zwei Männer mit einem Pitbull im Vorbeigehen zu Glowinski. Sie blieben stehen.

„Ausländerschlampe.“ Glowinski reagierte zunächst nicht. Erst, als die Männer schon im Begriff waren, weiterzugehen, sagte sie: „Was fällt euch ein?!“ Sie denkt darüber nach, ob das falsch war, ob sie lieber nichts hätte sagen sollen. Daraufhin attackierten sie die Männer, einer von ihnen würgte sie.

„Lassen Sie meine Frau in Ruhe!“, rief ihr Lebensgefährte, der in dem Moment aus dem Lager kam und sah, wie einer der Männer seiner Partnerin an den Hals griff und auf den Boden warf. Er nahm einen Hocker aus dem Laden und schlug damit einem der Männer an den Kopf. Diese ließen daraufhin den Hund los, der Glowinski in den Unteramt biss und dem Lebensgefährten in den Oberschenkel. Die Wunden sind noch zu sehen.

Dann ist ein Passant dazwischengegangen. „Sonst hätte der Hund mehr gemacht“, ist sich Glowinski sicher. Die Männer seien daraufhin abgehauen. Sie ist dem Mann sehr dankbar. Er sei nicht deutscher Herkunft gewesen, meint sie. Einen Tag später war er bei ihr im Eisladen. Er sei in Berlin nur zu Besuch gewesen, sie habe vergessen, nach seinen Kontaktdaten zu fragen. Als an dem Tag des Angriffs die Polizei eintraf, haben sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten die Gegend nach den Männern abgesucht, aber nicht mehr gefunden. Etwa eine Stunde lang sollen Polizisten vor der nahen Kiezkneipe „Zum Schwalbenschwanz“ rumgestanden haben. Ob die Polizist*innen auch die angeblich in der rechten Szene beliebte Kneipe „Sturgis“ durchsucht haben, die sich in der Nähe befindet, ist nicht klar. Auf meine diesbezügliche Presseanfrage hat die Pressestelle der Polizei bisher nicht reagiert.

Ein weiteres Gegenteil von Rassismus ist Solidarität. Viele Leute haben Gönül Glowinski und ihrem Lebensgefährten diese in letzter Zeit ausgesprochen. Bezirkspolitiker*innen der SPD, der CDU und der Grünen haben sie gemeinsam in ihrem Eisladen besucht. Auch die FDP will noch vorbeikommen, denn Glowinski war letztes Jahr noch als Politikerin aktiv: für die Liberalen im Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat sie in den Ausschüssen für Stadtplanung und Integration gesessen. Am Samstag hat es eine Solidaritätskundgebung vor ihrem Geschäft gegeben: „Gegen rechte Gewalt im Weitlingkiez.“ Rund 150 Menschen waren vor Ort. (Fotos) „Der Kiez schaut nicht weg!“ stand auf einem Flyer, der weitere rassistische Taten in Lichtenberg auflistet.

Die Kundgebung war eine kleine Aktion mit wenigen Leuten – wenn man sie mal mit der Solidaritätsaktion „Berlin trägt Kippa“ vergleicht. Nachdem ein Mann mit einer Kippa antisemitisch beleidigt und angegriffen worden war, trugen letzte Woche tausende Menschen bundesweit die Kopfbedeckung. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte: „Niemand darf bei uns wegen seiner Herkunft, seiner Hautfarbe oder seiner Religion diskriminiert werden.“

„Der Antisemitismus hat aktuell eine andere Aufladung“, meint Canan Bayram, Bundestagsabgeordnete der Grünen aus Friedrichshain. „Da springen jetzt ganz viele drauf im Moment, auch auf den angeblich importierten Antisemitismus.“ Bayram kennt Glowinski schon länger und kam daher am Samstag zu ihrem Eisladen. „Gegen Rassismus hilft nur Solidarität und ein schützendes Netzwerk. Die Rechten haben hier im Weitlingkiez leider noch geschützte Anlaufstellen.“

Der Vorfall vor der Eisdiele sei kein Zufall gewesen. Die Nachbar*innen dürften sich das nicht gefallen lassen. Aber sie sagt auch, dass es vor zehn Jahren noch unmöglich gewesen sei, so eine Solidaritätsveranstaltung wie am Samstag zu machen. Da hätte man diese vor den Rechten schützen müssen.

Dies könnte der Startpunkt für eine neue Kiezbewegung gegen rechte Gewalt sein, findet Gesine Lötzsch, für die Linke in Lichtenberg direkt in den Bundestag gewählt. Ihre Parteikollegin Hendrikje Klein meint, dass Nazis im Weitlingkiez früher mehr Raum hatten. Heute könnten diese nicht einfach so durch den Kiez laufen. „Wir haben hier schon viel geschafft, aber wir dürfen nicht lockerlassen.“

Zahlreiche türkische Medien wie die „Sabah“ oder die „Hürriyet“ kamen bereits vor der Kundgebung am Samstag in den Eisladen. Freude in der Türkei haben Glowinski angerufen, als sie in ihren heimischen Zeitungen davon gelesen hatten. Auch der türkische Generalkonsul sei bei ihr gewesen. Die deutschen Medien hingegen würden sich damit begnügen, die Pressemitteilung der Polizei abzuschreiben. Und Lichtenbergs Bürger*innenmeister Michael Grunst (Die Linke)? Auch er hat Glowinski in ihrem Eisladen besucht.

„In Sachen Rassismus sind wir im Weitlingkiez noch nicht so weit, wie wir es gerne hätten“, sagte mir Grunst dann am Mittwoch. Früher war dieser Teil der Stadt als Nazi-Hochburg verrufen. Neuesten Erhebungen zufolge habe sich dies erheblich verbessert, hieß es in den letzten Jahren immer mal wieder. Lichtenberg sei nazifrei, wurde zwischendurch sogar mal gesagt. Was Glowinski über Alltagsrassimus erzählt, zeigt ein anderes Bild des Kiezes.

Der Mann mit dem Pitbull ist ihr bekannt. Er habe sie und ihren Lebensgefährten bereits letztes Jahr rassistisch beleidigt. „Ihr seid wie die Pest“, habe er gesagt. Ihr Lebensgefährte habe den Mann öfter in der Gegend gesehen. Er sei auch schon mit einem Messer bedroht worden, von einer Gruppe Männer um die 25 Jahre. Einmal, als ihn diese beim Einparken beleidigt und bedrängt haben, hat er eine Eisenstange aus dem Wagen geholt und die Männer durch den Kiez gejagt. Glowinski erzählt von mehreren rassistischen Vorfällen. Einmal habe ein Mann seinen Schuh voll mit Hundescheiße an der Eingangstür des Eislandes abgeschmiert. Dabei habe er ihr in die Augen geschaut und gesagt: „Geh doch nach Hause.“ Sie vermutet, dass er absichtlich in den Hundekot getreten ist, um ihn bei ihr an der Treppenstufe abzuwischen.

„Die Atmosphäre hier im Kiez ist sehr gut“, sagt Glowinski jedoch. „Das Leben geht weiter.“ Den Laden hat die 56-jährige Diplom-Bauingeneurin 2015 eröffnet. „Diese Höflichkeit hier in Deutschland, das kenne ich nicht aus meinem Herkunftsland“, erzählt sie. Seit 1978 lebt sie in Deutschland. Sie vertraut auf den deutschen Staat: „Ich lebe hier, er wird mich schützen.“ Unser Gespräch ist am Ende angelangt. Nein danke, ich möchte keinen Eisbecher. Mir ist nicht danach.

Am Nebentisch ein Mann, er wohnt seit 25 Jahren im Kiez. Seine Töchter essen blaues Schlumpfeis. Er hat interessiert zugehört, wie ich Glowinski interviewe. Von der „sogenannten Nazi-Hochburg“ habe man hier eigentlich gar nichts mitbekommen, sagt er. „Ich zähle mich nicht zu dieser Gruppe von Rechten“, führt er weiter aus. „Aber ich sage mal so: sie haben auch nicht gestört.“

Eine Aussage wie diese zeigt leider, warum Nazis sich im Weitlingkiez so ungestört breitmachen konnten. Denn bevor dem Rassismus entgegengetreten werden kann, muss er auch erst einmal als Problem erkannt werden. Hoffentlich rüttelt der Fall Glowinski die Menschen im Kiez endlich wach.

Foto: Robert Klages

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