Nachbarschaft
Veröffentlicht am 09.07.2018 von Robert Klages
Hier der Bericht einer Frau aus Lichtenberg, die eine Vormundschaft für einen unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten übernommen hat. Wir nennen ihn Hesmat. Die Namen im Text sind frei erfunden.
„Im Sommer 2015, als viele Menschen nach Deutschland geflüchtet sind, war ich mit meinem 2. Kind schwanger. Beruflich bin ich Lehrerin und heute 35 Jahre alt. Für mich war es untragbar, dass so viele junge Menschen hier allein und auf sich gestellt waren. Die Vorstellung, dass meine eigenen Kinder jemals in einer ähnlichen Situation sein könnten, ging gar nicht. Ich hatte bis dahin nur ganz wenig Kontakt zu geflüchteten Menschen gehabt. Bei der Caritas habe ich Vorbereitungsseminare für dieses Ehrenamt belegt: hier habe ich mich zum Einen mit anderen Vormündern ausgetauscht und vernetzt und zum Anderen alles erfahren, was man wissen muss:
Was sind die Aufgaben eines Vormunds? Wie beantrage ich Asyl für mein Mündel? Was ist Familiennachzug? Wie funktioniert die Unterbringung in der Jugendhilfe? Wie sichert das Land Berlin seine ehrenamtlichen Vormünder ab? – Es gibt eine Haftpflichtversicherung, die im Notfall greift, so dass ich nicht persönlich für mein Mündel haftbar bin.
Die Caritas hatte damals ordnerweise Namen von geflüchteten Jugendlichen auf der Suche nach Vormündern in ihrem Büro. Auch heute fehlen sie sehr, zumal Jugendliche, die negativ auffallen, ganz besonders medial inszeniert werden und man wenig über die guten Geschichten hört. Meine ist eine „gute“ Geschichte, wenn auch keine einfache. Ich verließ das Büro mit einem Vorschlag für einen 16-jährigen Jungen aus Afghanistan. Ein Name und eine Infobroschüre zu Afghanistan sowie die Telefonnummer seiner Betreuerin.
Hesmat war zu diesem Zeitpunkt bereits seit elf Monaten in Deutschland, war allein aus Afghanistan geflohen und hatte eine große Familie mit vier kleinen Geschwistern verlassen müssen. Als wir uns im Oktober kennenlernten, lebte er im Vierbettzimmer seiner dritten Sammelunterkunft in Berlin und besuchte bereits seit April die Willkommensklasse. Am Anfang gab es eine Menge zu tun: Nach einem Kennenlernen wurde ich offiziell zum Vormund bestallt.
Dann kam auf einmal ziemlich viel Post vom Jugendamt, aber der ist mit einem Hefter schnell beizukommen. Die Regelung der Unterkunft, der Umzug und das Einrichten des WG-Zimmers mussten geklärt werden. Die Betreuer vor Ort in der WG sind bis heute eine große Hilfe, sie begleiten ihn zu Ärzten und klären alle Fragen des Alltags. Auch der Lehrer seiner Willkommensklasse hat sich sehr für seine Schüler eingesetzt und geholfen sie in Praktika und zur weiterführenden Schule zu vermitteln. In wenigen Wochen schreibt er gemeinsam mit vielen anderen Berliner Schülern die Prüfungen für den erweiterten Hauptschulabschluss, nächstes Jahr wird der MSA in Angriff genommen.
Nachdem Hesmat eingezogen war, ging es nahtlos weiter mit dem Stellen des Asylantrags, der Vorbereitung der Anhörung beim BAMF und schließlich der Anhörung selbst. Wir haben uns in dieser Zeit sehr gut kennengelernt und unser Leben hat sich eine zeitlang quasi um drei Jungs gedreht.
Unser Umfeld hat überwiegend positiv reagiert. Es gab aber auch kritische Fragen aus dem Freundeskreis: „Warum kümmerst du dich um einen geflüchteten Jugendlichen? Warum nicht um einen deutschen?“ Viele Menschen in Deutschland haben Angst davor, dass sie benachteiligt werden aufgrund der vielen Neuankömmlinge. Nicht immer habe ich darauf eine Antwort. Aber wer Hesmat einmal getroffen hat, sieht, dass es auch anders gehen kann.
Offiziell sind Vormünder dazu angehalten, sich mindestens einmal im Monat zu vergewissern, dass es ihrem Mündel gut geht. Absolut sinnvoll ist ein Smartphone mit Whatsapp, damit man leicht miteinander kommunizieren kann. Wie eng man die Beziehung wachsen lässt, ist jedem selbst überlassen und hängt sicherlich auch einfach von der Sympathie füreinander ab. Wir lernten uns kennen und Hesmat wurde zu einem Teil unserer Familie, vielleicht, weil er auch in Afghanistan großer Bruder ist und wir alle fünf den gleichen Humor haben.
Ich habe mich oft gefragt, wie sein Alltag aussah, welche Witze gemacht wurden, wie seine Eltern die Kinder erzogen haben. Die ersten Monate brachte er bei jedem seiner Besuche für unseren großen Sohn Franz Süßigkeiten mit – für das Baby gab’s Bananen. Hesmat durfte nachdem er einen Vormund hatte schnell ins betreute Wohnen umziehen und lebt jetzt seit über einem Jahr in der gleichen betreuten WG. Dorthin lädt er uns oft zum Essen ein – Franz‘ Lieblingsessen ist afghanischer Reis mit Rosinen, Möhren und Hühnchen. Der kleine Felix ist mittlerweile gute zwei und die beiden haben eine ganz besondere Beziehung zueinander. Wir sind gern gemeinsam unterwegs, die Jungs spielen Fußball, wir kennen Hesmats Freunde, kochen gemeinsam oder feuern Hesmat beim Fußball an.
Hesmat ist jetzt seit 2.5 Jahren in Deutschland und lernt durch uns auch ein europäisches Familienmodell kennen. Beide Eltern arbeiten, beide bringen die Kinder ins Bett und kochen. Wir streiten uns auch und sagen, wenn wir unzufrieden sind. Das ist für Hesmat nicht einfach, der in seinem kleinen afghanischen Dorf ganz anders aufgewachsen ist, in einer Gesellschaft, die ganz anders funktioniert als unsere. Es ist wichtig, dass sich Menschen finden, die den Jugendlichen ein zugewandtes Gegenüber bieten, die ihnen ins Leben in Deutschland Einlass gewähren und ihnen andere Wege zeigen als sie bislang kennen.
Für uns ist aus dieser Sache eine drittes Kind entsprungen. Ein Teenager, der langsam auftaut – mittlerweile auch manchmal trotzig ist – und neulich auf dem Sofa ganz lang herumdruckste bis er sich traute zu fragen: „Endet das, wenn ich 18 bin?“ Die Vormundschaft endet mit Erreichen der Volljährigkeit. Die Beziehung endet hoffentlich nie!“
Foto: dpa