Nachbarschaft

Veröffentlicht am 17.06.2019 von Robert Klages

Wo früher eine Gießerei war, ist nun ein Tonstudio. Ich war zu Besuch bei Vredeber Albrecht, ehemals Keyboarder von Blumfeld, der mir dort sogleich eine Geschichte erzählte: Die Schriftstellerin Marion Brasch habe beides schon betreten, Gießerei und Tonstudio. Ich rief sie an und sie und erinnert sich: Als Brasch in dem Tonstudio von Albrecht ein Hörbuch einsprach, stellte sie fest, dass sie in diesen Räumen einen Teil ihrer DDR-Kindheit verbracht hat. Damals, als es für die Schüler*innen Pflicht war, einmal in der Woche sozialistische Arbeitsverhältnisse kennenzulernen und bei einem Betrieb mitzuarbeiten. „Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion“, kurz UTP, hieß das.

Ab der 7. Klasse bekamen die Schüler*innen Arbeitsaufgaben in Betrieben des Bauwesens, der Landwirtschaft oder der Industrie. Brasch war auf der polytechnischen Oberschule in der Leninallee, heute Landsberger Allee. „Das war sehr trist“, erinnert sich die 58-Jährige an die Tage in der Gießerei in der Herzbergstraße in Berlin-Lichtenberg. An den kalten Rauch auf dem Hof und ans heimliche Rauchen.

Im Juni 2016 ist sie an diesen Ort zurückgekehrt, um ihr Hörbuch „Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot“ einzusprechen, erschienen beim Verlag Volland und Quist. Sie entstammt einer Familie deutsch-österreichischer Kommunisten mit jüdischen Wurzeln. Ihr Vater Horst Brasch (1922–1989) bekleidete hohe Ämter in der Kulturpolitik der DDR. Die Geschichte ihrer Familie hat sie in ihrem Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ verarbeitet, der 2012 im S. Fischer Verlag erschien.

Die Gießerei und die DDR sind weg, mittlerweile haben sich in dem Gebäude viele Kunstschaffende breitgemacht, der Besitzer vermietet die Räume – unter anderem an Vredeber Albrecht, ehemals Keyboarder der Gruppe Blumfeld. Der 45-Jährige ist auch Musikproduzent und nutzt sein Studio „Audiofenster“ für diverse Aufnahmen – auch Marc-Uwe Kling und Robert Stadlober haben hier Hör-CDs-eingesprochen.

Albrecht ist gerne hier, im Osten der Stadt. Er führt zu seinem Tonstudio über einen großen leeren Saal, die hellblaue Tapete fleddert von der Wand, dann über die sonnenbeflutete Dachterrasse, ein nackter Mann liegt reglos dort – „einer der Musiker hier“, erklärt Albrecht, der in Prenzlauer Berg wohnt und Mitte 1990 nach Berlin gekommen ist. Von 1996 bis 1999 war er Mitbetreiber der galerie berlintokyo, einem Szene-Treffpunkt, in dem sowohl Ausstellungen als auch Konzerte und Club-Abende stattfanden.

Das Lichtenberger Studio teilt er sich seit 2017 mit dem ehemaligen Blumfeld-Kollegen Lars Precht. Zusammen veröffentlichten sie 2017 als mESMO das Album „The Same Inside“ beim Berliner Label „Staatsakt“. Hier sind als Sänger unter anderem Dirk von Lowtzow, Torsun Burkhardt und Jens Friebe zu hören. In Albrechts Studio haben zuletzt „Zuckerklub“, „Mietminderung“ und „Oxy Music“ aufgenommen. Am Theater an der Parkaue gibt es derzeit zwei Stücke mit Theatermusik von Albrecht zu hören und zu sehen.

Bevor Albrecht nach Lichtenberg kam, hatte er ein Studio in Mitte – doch er musste raus, da er nur einen Mietvertrag zur Zwischennutzung hatte. Das Gebäude in der Köpenicker Straße, direkt neben der leerstehenden ehemaligen Kunsteisfabrik, steht seit drei Jahren ebenfalls leer. Albrecht fragt sich, was dort wohl entsteht. Eine Nachfrage beim Bezirksamt Mitte ergab: Eine „Denkfabrik für kreative Forschung und Entwicklung im medizintechnischen Bereich“. Bauherr und Eigentümer ist die AEF GmbH Bonn, unmittelbarer Rechtsnachfolger der TELAMON GmbH Bochum. Seit Anfang April bereits wird die ehemalige Eisfabrik im Inneren instandgesetzt.

Das zugehörige Gelände um die Alte Eisfabrik herum wurde etwa 2015 durch Trockland von der TLG Immobilien AG erworben, welche das Grundstück nach der Wende bekommen hatte. Unter dem Namen „Eiswerk“ will Trockland auf dem zirka 8800 Quadratmeter großen Grundstück bis zum Jahr 2020 eine Mischung aus Wohnen, Gewerbe sowie kultur- und kreativwirtschaftlicher Nutzung mit einer Bruttogeschossfläche von insgesamt rund 23 000 Quadratmetern sowie einer Tiefgarage realisieren.

Mit dem Bau wurde jeweils noch nicht begonnen und der geplante Beginn ist dem Bezirksamt nicht bekannt. Eine Baugenehmigung liegt bereits vor. An der Spree-Seite des Geländes ist das „TeePee-Land“: Rund 50 Personen leben in Zelten, es gibt einen Raum für Musik, für Yoga, eine Art Fahrradwerkstatt. Laut Bezirksamt müssen die TeePee-Land-Bewohner*innen nicht weg, sondern haben sich an dem Workshop-Verfahren zum Spreeuferweg beteiligt und sind als Kulturprojekt aufgenommen worden. Denkbar seien „Options- bzw. Aktionsflächen“, die dem Projekt nach wie vor „Raum lassen“, so das Bezirksamt Mitte.

Zurück zu Albrecht, nun in Lichtenberg, angekommen in seinem Studio voll mit Instrumenten. Kaum ist das Interview zu Ende, kommt ein Mann herein, groß, lange Haare, langsam: Er möchte „die Aufnahmen“ von Albrechts PC auf seinen USB-Stick „ziehen“, sagt er. Er ist Musiker einer Elektro-Punk-Band, von der man lange nichts mehr gehört hat. Doch nun erscheint bald das neue Album – der Name der Band soll nicht genannt werden, sie will sich noch bedeckt halten. Produziert wurde das Album jedenfalls von Rodrigo Gonzalez (Rod) von den Ärzten.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-r.klages@tagesspiegel.de