Nachbarschaft

Veröffentlicht am 09.12.2019 von Robert Klages

Eine ungeschriebene Regel des Reisejournalismus lautet: Schreibe niemals einen Artikel über den Reiseleiter. Nun bin ich auf einer Pressereise in Kambodscha gewesen und irgendwann sagte Sethor Chum, der uns begleitete, er habe deutsch am Herder-Institut in Leipzig gelernt und danach an der Humboldt-Uni in Berlin Jura studiert. Schon als ich frage, wo genau er denn in Berlin gelebt habe, spüre ich die Antwort: Lichtenberg. Wir Lokaljournalisten nennen das einen Strike oder auch Volltreffer.

Als sein Land von den Roten Khmern befreit wurde, war Chum 11 Jahre alt. Er ging damals an den Rand des Dorfes und sah die Massengräber, die gerade ausgehoben wurden. Die maoistisch-nationalistische Guerillabewegung, die 1975 unter Führung von Pol Pot in Kambodscha an die Macht kam und bis 1979 das Land totalitär als Staatspartei regierte, hatte das Land „gereinigt“. Alles und alle, die mit dem Kapitalismus in Kontakt gekommen waren, sollten vernichtet werden. Auch Lehrer*innen und Menschen aus den Städten. Ganze Familien wurden ermordet. Nur Dorfbewohner*innen, Bäuerinnen und Bauern galten als Khmer erster Klasse.

Als ich Chum frage, wie viele Geschwister er hat, muss er lange überlegen. „Das kann ich nicht genau sagen. Die Eltern waren sehr fleißig“, antwortet er dann. Eine Schule hatte es zur Zeit der Terrorherrschaft nicht gegeben. Kinder mussten auf den Feldern helfen, hatten kaum selbst zu Essen, viele starben oder wurden ermordet. Auch die Erwachsenen mussten arbeiten. Chums Mutter lebte sieben Kilometer entfernt auf einem Reisfeld, der Vater musste Fischen gehen. Eigentlich war er Grundschullehrer. Doch da er aus einer Arbeiterfamilie stammte und das Fischerhandwerk beherrschte, wurde er von den Roten Khmern verschont. (Eine ähnliche Geschichte von einem kleinen Mädchen in Kambodscha, dessen Vater Lehrer ist, hat Angelina Jolie in dem Film „Der weite Weg der Hoffnung“ erzählt.)

Nach der Befreiung von den Roten Khmern erlaubte die neue Regierung wieder Ausbildungen. In Chums Dorf wurde eine Tafel unter einem Mangobaum aufgehängt. Die Regierung verteilte Essen. Bald gab es Hefte und Stifte. Dann eine Schule. Chum schaffte es, Abitur zu machen. Später erhielt er ein Stipendium und wurde nach Berlin geschickt. Kambodscha musste schnell Leute ausbilden, die Roten Khmer hatten so viele Menschen, die etwas gelernt hatten, vernichtet. Der Austausch wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung mitfinanziert.

Eigentlich wollte Chum nach Vietnam gehen, doch er hatte keine Wahl. Er landete in einer Unterkunft in der Storkower Straße. Er erinnert sich, dass die Asiat*innen, die dort wohnten, nur am Wochenende in den Gemeinschaftsküchen kochen durften. Sie verwendeten zu viel Knoblauch. 1996 ging Chum zurück nach Kambodscha, arbeitete zunächst als staatlicher Beamter, dann als Assistent des Rechtsberaters im Parlament. Heute ist Chum 52 Jahre alt und staatliche zertifizierter Tourist*innenführer in seinem Heimatland.

Jetzt kann er wieder ungestört Knoblauch essen. Und Fledermäuse, seine Leibspeise: Gebraten, gekocht, gegart, gegrillt. Klar, die stehen unter Naturschutz, sagt er. Würden aber wirklich gut schmecken. Andere Länder, anderer Ekel. Ich meine, ich komme aus einem Land, da essen wir Wurst. Und wenn man eine Currywurst bestellt, wird man gefragt: „Mit oder ohne Darm?“. Für uns ist das normal, für andere sicherlich ekelig. Von daher will ich nicht urteilen. Aber Fledermaus auch nicht probieren wollen.

Wenn Chum versucht, sich an die Zeit der Roten Khmer zu erinnern, schaut er aus dem Fenster des kleinen Bus, mit dem wir gerade auf dem Weg zu einem Luxushotel sind. Der Straßenrand ist voll mit Holzhütten. Die Leute wollen an den wenigen Straßen des Landes wohnen, denn dort können sie Getränke oder Benzin, abgefüllt in Glasflaschen, verkaufen. Doch das Land 50 Meter neben den Straßen gehört, ebenso wie die Strände, immer dem Staat: Wenn die Straßen verbreitert werden, müssen die Hütten abgerissen werden. Wir halten an einer Pagode, einem riesigen, pompösen buddhistischen Tempel irgendwo in der Pampa, finanziert durch Spendengelder.

Kambodscha verehrt seine Götter mehr als seine Kinder. Chum erzählt uns von den Gottheiten und ihren Bedeutungen. Zurück im Bus frage ich ihn, wie heute mit der Zeit der Roten Khmer umgegangen wird. „Es wird nicht viel darüber gesprochen“, antwortet er. „Die Familien denken darüber nach, wie sie ihre Familien ernähren“, erzählt Chum weiter. Sich mit der Vergangenheit beschäftigen kann nur, wer sich einer Zukunft gewiss sein kann. Erinnerung ist Luxus.

Ein Blick aus dem Fenster: Müll in den Straßengräben, dazwischen Menschen und ihre Holzhütten, Kinder spielen mit Plastikflaschen und Lotusblüten, Gänse, groß wie Kinder, Enten und Hühner laufen herum. Die Straßen sind brüchig, überall Schlaglöcher, Motorroller mit ganzen Familien drauf schlängeln sich durch Lastwagenkolonen. 175 Dollar beträgt im Schnitt das Grundgehalt einer Textil-Fabrikarbeiterin in Kambodscha.

Die Frauen fahren morgens um 5 aus den Dörfern zur Fabrik und abends zurück. Auf den Tragflächen von Transportern werden tausende von ihnen jeden Tag transportiert. Keine Zeit für Erinnerungskultur. Sie produzieren unsere Kleidung: Adidas, H&M usw. Damit wir hier Zeit haben für unsere Erinnerungskultur. Zeit hätten. Die meisten dieser Fabrikarbeiterinnen in Kambodscha sind unterernährt und bringen fehlgebildete Kinder zur Welt. Ironischerweise ist an dem Tag, als wir mit Chum durch Kambodscha fahren „Black Friday“: Shoppen bis der Arzt kommt.

„Die Menschen zur Zeit der Roten Khmer waren auch Opfer der Zeit“, meint Chum dann zu mir. „Sie waren gezwungen, bei den Roten Khmern mitzumachen. Sonst wären sie getötet worden.“ Die gleichen Aussagen wie in Deutschland, denke ich.

„Und wir glauben an Karma“, sagt Chum weiter. „Wer getötet hat, wird nach dem Tod von Gott getötet.“ Karma klärt das also? Und wer getötet wurde, der wurde bereits wiedergeboren und lebt nun ein glückliches Leben? Himmel und Hölle, nennen es die Christen. Schon immer wurde nach einem höheren System gesucht, dass urteilt und belohnt oder bestraft. Weil die Rechtssysteme der Menschen keine Gerechtigkeit schaffen.

An diesem Tag in Kambodscha titelte eine der Zeitungen dort über einen Prozess: Ein weiterer ehemaliger Anführer der Roten Khmer wird vor den Pranger eines irdischen Gerichts gestellt. Noch viele von ihnen haben Posten in der Regierung, sind Beamte, leben in Wohlstand. Chum muss unterdessen einen Polizisten bestechen, damit unser Bus auf einem Parkplatz halten darf.

Chum dürfte als studierten Juristen die Sache mit dem Karma eigentlich nicht zufriedenstellen, denke ich weiter. „Die großen Täter sollen bestraft werden, nicht die kleinen“, sagt Chum dazu. Wieder die gleichen Aussagen wie in Deutschland. Man soll nicht mit westlichen Augen auf ein anderes Land blicken, heißt es immer. Chum erzählt uns, seine Frau sei derzeit schwanger. Ich bin mir sicher, er wird seine Kinder mehr lieben als seine Götter.

Über die Killing Fields in Phnom Penh leitet er als Tourist*innenführer fast täglich Leute. Auch wir fahren am letzten Tag der Pressereise dorthin. Die Henker der Roten Khmer haben hier auch Babys und Kleinkinder totgeschlagen – an einem speziell dafür vorgesehenen Baum. An einem anderen Baum hingen Lautsprecher, damit man die Exekutionen nicht hörte.

Wir sehen dort Touristenmassen, die über Massengräber laufen. Hier ein Video davon12.529 ausländische und 3784 einheimische Tourist*innen besuchten im Oktober die Killing Fields Gedenkstätte in Phnom Penh. Leider führt der Weg direkt über ein Stück Massengrab. Die Besucher*innen laufen über Klamotten und Knochen der Opfer, die da am Anfang des Wegen liegen. Sie wurden vom Regen hochgespült. Schilder wie „Together for a clean cambodia“ oder „clean resort, good service“ sind leider makaber. Auch werden T-Shirts mit Totenköpfen im Souveniershop verkauft. Dabei wird noch auf Websites für Tourist*innen darauf hingewiesen, bitte keine T-Shirts mit beispielsweise Totenköpfen zu tragen.

Foto: Robert Klages

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-r.klages@tagesspiegel.de