Nachbarschaft

Veröffentlicht am 10.08.2020 von Masha Slawinski

Der Historiker Detlef W. Stein ist Leiter und Geschäftsführer der Lichtenberger Anthea Verlagsgruppe. Er sitzt im Vorstand zur Aufarbeitung der Stasi-Geschichte und hat sein ganzes Leben in Lichtenberg verbracht.

Herr Stein, wie sind Sie mit dem Bezirk Lichtenberg verbunden? Ich wurde im Stadtbezirk 1961 geboren und bin dort in die Schule gegangen und aufgewachsen. Mit meiner Familie bin ich über die Jahrzehnte von einer Ecke in Lichtenberg in die andere gezogen. Seit Mitte der 1980-er Jahre war ich in verschiedenenen oppositionellen Gruppen tätig. 1989/90 haben wir uns in der Bürgerrechtsbewegung um politische Freiheiten und die Durchsetzung von demokratischen Alltagsstrukturen bemüht. Als Sprecher des Neuen Forums im Berliner Rathaus war es für mich persönlich wichtig, das undemokratische Gesellschaftssystem in der DDR schnellstmöglich zu überwinden. Heute lebe ich mit meiner Frau und meiner zwanzigjährigen Tochter in einer schönen Lichtenberger Altbauwohnung, unweit des Stasi-Museums und habe am gleichen Ort meine Verlage, in denen auch meine Frau arbeitet. Der 31-jährige Sohn lebt und arbeitet ebenfalls in Lichtenberg.

Wie sind Ihre Verlage thematisch verankert? Insgesamt habe ich drei kleine Verlage, die unter dem Logo der Anthea Verlagsgruppe zusammengefasst sind. Mein erster Verlag war der Osteuropazentrum Berlin-Verlag, der 2007 gegründet wurde. Thematisch steht bei ihm die Aufarbeitung des Kommunismus der SBZ/DDR und Osteuropa im Vordergrund. Der zweite Verlag ist der Anthea Verlag, der 2011 gegründet wurde und ein Verlag für Belletristik, Lyrik, Geschichte und Kultur in Berlin und Brandenburg ist und in verschiedenen Sprachen publiziert: Deutsch, Polnisch, Russisch, Bulgarisch und Englisch, in Zukunft auch in Rumänisch und Albanisch. Eine Herausforderung ist für uns als Team seit Jahren, dass das Interesse zu osteuropäischen Themen sich leider nicht vervielfacht hat. Der dritte Verlag ist der 1997 gegründete Weißensee Verlag, den ich übernommen habe, nachdem der Geschäftsführer in Ruhestand gegangen war.                                                                               

Was macht Lichtenberg für Sie so spannend? Der historische Kontext ist für mich interessant, als Alt-Lichtenberger und natürlich als Historiker. In Lichtenberg spiegeln sich die Reibungspunkte der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts wieder. Verständlicherweise konnten das viele Leute nach der Friedlichen Revolution nicht ertragen, weil sie Opfer waren und zogen aus dem Bezirk weg. Doch viele Bürger, vielleicht 70 bis 80 Prozent, sind nach 1990 hier geblieben.                

Wie nehmen Sie die Veränderungen des wachsenden Bezirkes wahr? Sehr wohlwollend! Die Veränderungen beziehen sich zunächst auf den Zuzug junger Leute seit ca. 10 Jahren und das nicht nur, weil die Wohnungen in anderen Bezirken teurer geworden sind, sondern weil sich hier viele Kieze kreativ entwickelt haben, zum Beispiel der Weitling- und Kaskelkiez. Aber natürlich gibt es mittlerweile auch in Lichtenberg ein Wohnungsproblem. Viel verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten auch durch die Deindustralisierung. Die Schließung großer Unternehmen im Bezirk in den 1990-er Jahren hat bis heute Spuren hinterlassen und hier sind sicher noch Reserven in der Neuansiedlung von Firmen. Lichtenberg hat sich aber in den letzten 15 Jahren einen zunehmend besseren Ruf bei der Berliner Wirtschaft erarbeitet und ich denke, dass man in den nächsten Jahren zielorientiert die noch vorhandenen Lücken schließen wird.

Was sollte man in Lichtenberg gesehen haben? Für junge Leute ist das Jugendtheater „Parkaue“ an der Frankfurter Allee interessant, dann natürlich der Tierpark Friedrichsfelde und das Deutsch-Russische Museum. Außerdem ist der Besuch der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen und das Stasi-Museum zu empfehlen. Die ehemalige Stasi-Zentrale wird als Campus für Demokratie eine der europaweit wichtigsten bildungspolitischen Angebote zur Zeitgeschichte in den nächsten Jahren ausgebaut. Das war ein Traum von uns vor 30 Jahren: Die Diktatur wird gestürzt und wir übernehmen die Akten in die eigenen Hände! Mir ist es wichtig den Gedanken an Freiheit und Demokratie, die wir 1989/90 so schwer errungen hatten, nicht nur wachzuhalten, sondern aktiv gegen politische und publizistische Angriffe von Links- und Rechtsextremisten zu schützen.

Foto: Anthea Verlag

 

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