Nachbarschaft

Veröffentlicht am 05.10.2020 von Robert Klages

Vorurteile und Stereotype gegen Menschen, die in der DDR geboren wurden? Da gibt es einige, leider. Viele, die dort aufgewachsen sind, haben heute immer noch damit zu kämpfen. So, wie Jeannette Gusko, geboren und aufgewachsen in Friedrichsfelde. Die 36-Jährige ist Sprecherin des Netzwerks „3te Generation Ostdeutschland“. Als Deutschland wiedervereinigt wurde, war sie sechs Jahre alt. Im ZDF-Magazin „Frontal 21“ hat sie von ihren Erfahrungen erzählt, gedreht in der Mellenseestraße, Friedrichsfelde. Als sie zum Beispiel bei „einer großen Tageszeitung in Frankfurt am Main“ gearbeitet habe, sei man immer wieder sehr verwundert gewesen, dass sie als Ostdeutsche dort sei. Es seien sehr subtile Ausschließungsmechanismen:

„Mensch, du bist aus Ostdeutschland, das habe ich gar nicht gemerkt, das hätte ich gar nicht gedacht“, sagten viele Leute damals zu ihr (einige sagen es auch heute noch). Das führt zu dem Gedanken: Was wäre denn schlecht oder anders daran, Ostdeutsch zu sein? „Ich fand das immer seltsam: Was ist denn so anders, so peinlich oder schlimm am ostdeutsch sein? Und warum ist es gut, wenn mein Gegenüber es nicht von mir erfährt? Wenn ich westdeutsch gelesen werde?“ Viele hätten ihr Ostdeutschsein in Westdeutschland daher versteckt. Ostdeutsche seien selten laut und selbstbewusst, sondern eher zurückhaltend. „Unsichtbar werden. Bloß nicht auffallen. Endlich dazugehören. Und doch nie genug sein, im Vergleich mit der vermeintlich westdeutschen Norm gemindert. Es ist subtil und es wirkt.“

„Es gab immer dieses gewisse exotische Interesse an mir, dass ich jetzt da sei“, sagt Gusko weiter zu ihrer Zeit in Frankfurt. An den Tag des Mauerfalls erinnert sie sich konkret nicht mehr, nur an die Aufgeregtheit: „Es war so ein Gefühl wie Weihnachten“, mit viel Vorfreude also. Und plötzlich gab es ihren Lieblingsschokoriegel „Fetzer“ nicht mehr. In Lichtenberg habe sie anschließend eine sehr freie Kindheit gehabt. Sie habe sich sehr unbeobachtet gefühlt.

Guskos Zeit am  Gymnasium war geprägt durch wöchentliche Auftritte von Neonazis am Bahnhof Tierpark. „Man wollte damit nichts zu tun haben, aber es war immer Thema. Ich würde sagen, dadurch sind wir sehr früh erwachsen geworden und haben uns politisiert, weil es auch eine große linke Gegenbewegung gab.“ Die geduldeten rechtsextremen Aufmärsche hätten ganz klar ihre die Gesinnung deutlich gemacht und gezeigt, wer ins Weltbild gehörte und geduldet werden sollte, und wer nicht.

Die Erwachsenen hätten nicht viel unternommen und weggesehen. „Deswegen konnte sich der Rechtsextremismus so viel Raum greifen“, findet Gusko rückblickend. Vielleicht auch daher wolle sie das heute ändern, anders machen, aktiv sein und nicht wegschauen. „Ohne die Zeit in Lichtenberg hätte ich vielleicht nicht diesen Arbeitsweg genommen. Lichtenberg war auch immer die Abwesenheit von Zeit und Kapazitäten, die 90er Jahre waren für Eltern auslaugend und strapazierend, es ging eher um die Existenzsicherung, deswegen kam es zur Abwesenheit von Vorbildern. In dieses Vakuum konnten Rechte vordringen.“

Wegen Corona ist sie wieder mehr in Lichtenberg, um ihre Eltern zu unterstützen, sie wohnt mittlerweile in Neukölln. Die Erfahrungen in Lichtenberg sieht sie als großen Schatz. „Ich habe das Gefühl, mit jeder Situation umgehen zu können. Egal was passiert, ich gestalte die Gegenwart und Zukunft mit. Das kommt aus Lichtenberg.“ Foto: privat.

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