Intro

von Ingo Salmen

Veröffentlicht am 21.04.2020

nie zuvor hatte die Welt solches Leid gesehen. Mehr als 60 Millionen Menschen starben, unermesslich größer war die Zahl jener, die körperliche Wunden davontrugen oder seelisch versehrt wurden. Die Welt lag in Trümmern, als sich im Frühling 1945 der Krieg dem Ende neigte, der sechs Jahre zuvor von Berlin ausgegangen war. An diesem Dienstag, dem 21. April, ist es genau 75 Jahre her, dass er – nach unzähligen Bombennächten – auch zu Lande in die Stadt zurückkehrte: mit dem Einmarsch der Roten Armee.

Der Überlieferung nach lag das erste Berliner Haus, das die sowjetischen Panzer passierten, in Marzahn. Es befindet sich an der Landsberger Allee 563, ein „bäuerliches Wohnhaus“, wie der Vorsitzende des Heimatvereins, Wolfgang Brauer, es nennt. Nicht recht dörflich, nicht recht städtisch, mehr Stadtrand geht nicht. Seit 1985 ist es als „Haus der Befreiung“ ein Denkmal. Auf seiner tiefroten Fassade steht in großer weißer Schrift das Datum „21. April 1945“, dazu auf Russisch „Nach Berlin – Sieg“, genauso in Gelb gezeichnet wie die Konturen eines roten Sterns an der Spitze, der keinen Zweifel daran lassen soll, wer zuerst die Hauptstadt des Dritten Reiches erreichte. „Auf dem Wege der Befreiung Berlins vom Hitlerfaschismus hissten Sowjetsoldaten in Berlin Marzahn die rote Fahne des Sieges“, steht auf dem Gedenkstein am Sockel des Hauses.

Was ist dran an der Überlieferung? Ob die Rotarmisten sich wirklich die Zeit zum Hissen der Fahne nahmen, wie es im spätsozialistischen Pathos heißt, darf bezweifelt werden. Zu schnell rückten sie vor. Es ist nicht einmal gesichert, ob die Landsberger Allee 563 das erste befreite Haus Berlins war. Dorothee Ifland, Leiterin des Bezirksmuseums, weist darauf hin, dass Weißensee an jenem 21. April 1945 ebenfalls befreit wurde. „Das ist ein alter Streit“, sagt auch Brauer. „Der Vorstoß auf die Berliner Innenstadt erfolgte aus zwei Richtungen.“

Im Norden rückten Truppenteile über Weißensee vor. Den Hauptangriff unternahm jedoch die 5. Stoßarmee der 1. Weißrussischen Front entlang der Landsberger Allee. Wer zuerst die Stadtgrenze überschritt? „Die haben das wohl nicht auf die Sekunde genau aufgeschrieben“, sagt Brauer. „Die hatten anderes zu tun.“ Eine deutsche Zeitzeugin indes berichtete dem Tagesspiegel vor fünf Jahren, um 12 Uhr am Mittag seien die Sowjets schon durch den Ortsteil Malchow gekommen, der damals noch zu Weißensee gehörte. In Marzahn seien sie erst Stunden später gewesen. Das erste befreite Haus Berlins wäre demnach an der Dorfstraße in Höhe der Einmündung des Blankenburger Pflasterwegs stadteinwärts auf der linken Seite zu finden.

Das Marzahner „Haus der Befreiung“ war genaugenommen nicht mal das erste in Marzahn. Brauer verweist auf ein Gehöft 300 Meter weiter östlich an der Landsberger Allee 565. Es ist längst abgerissen, heute befindet sich dort ein Flachbau mit dem Jugendberatungshaus „XXL“ des Jugendwerks Aufbau Ost (JAO), direkt gegenüber dem BVG-Betriebshof. „Wenn man ganz pingelig ist, war’s dieses Gehöft“, erzählt Brauer. „Das war aber nicht so repräsentativ, da hat man dann die Landsberger Allee 563 genommen.“ Dieses war „sicherlich eines der ersten Häuser auf dem Weg der Roten Armee“, sagt auch Ifland.

„Historisch verbürgt ist, dass die Panzer auf der Landsberger Allee in die Innenstadt gerollt sind“, erklärt Brauer. Der Widerstand an dieser Stelle sei gering gewesen. Er setzte erst im Bereich des Dorfs Marzahn ein. „Der Versuch, eine Verteidigungslinie aufzubauen, brach relativ schnell zusammen.“ An Äckern vorbei rückte die Rote Armee rasch in Richtung Lichtenberg vor, wo es im Bereich der Frankfurter Allee starke Gegenwehr gab – der innere Verteidigungsring entlang der Ringbahn war nahe. „Da begannen die Straßenkämpfe“, erklärt Brauer. „Da begann die dichte Berliner Stadtbebauung, da muss es furchtbar gewesen sein.“

Anders als in Marzahn sah die Lage in den südlichen, damals bereits dichter besiedelten Bereichen des heutigen Bezirks aus: „Entlang der Bundesstraße B1/B5, in Mahlsdorf und Kaulsdorf, gab es heftigen Widerstand“, berichtet Brauer. „Das war ziemlich blutig, da lagen die Toten in den Gärten.“ Auf dem Mahlsdorfer Friedhof seien heute noch einige Kriegsgräber zu finden, in den die Opfer jener letzten Tage bestattet seien. Den Versuch, am 21. und 22. April in Biesdorf Flak-Stellungen aufzubauen, machten sowjetische Flieger schnell zunichte. Nach Marzahn am 21. April waren am 22. April alle anderen Ortsteile des heutigen Bezirks Marzahn-Hellersdorf befreit.

Malchow oder Marzahn? Die Rote Armee scheint jedenfalls dem Vorrücken der 5. Stoßarmee auf der Landsberger Allee größere Bedeutung beigemessen zu haben. Ihr Kommandeur, Generaloberst Nikolai E. Bersarin, wurde bereits drei Tage nach der Befreiung Marzahns zum ersten Stadtkommandanten von Berlin ernannt. Am 16. Juni 1945 starb er bei einem Motorradunfall in Berlin. 1975 machte der Ost-Berliner Magistrat Bersarin zum Ehrenbürger, 1992 wurde er aus der Liste gestrichen und 2003 schließlich wieder aufgenommen. Dort, wo er 1945 mit seinen Leuten die Wuhle überschritt, auf der Landsberger Allee an der Berliner Stadtgrenze, wurde am 21. April 2005 eine Brücke nach Bersarin benannt.

Ingo Salmen ist Online-Redakteur beim Tagesspiegel. Und bei Twitter ist er auch zu finden. Wenn Sie Anregungen, Kritik, Wünsche, Tipps haben, schreiben Sie ihm bitte eine E-Mail an leute-i.salmen@tagesspiegel.de