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von Ingo Salmen

Veröffentlicht am 02.02.2021

der Vorwurf ist groß, es gibt einige Indizien, aber keine endgültigen Beweise: Die Freie Schule am Elsengrund in Mahlsdorf steht unter dem Verdacht, von rechtsextremistischen Vorstellungen beeinflusst zu sein. Eine WDR-Dokumentation hatte vergangene Woche zweifelhafte Kontakte zu Holocaust-Leugnern aufgedeckt: Im Fall des Schweizer Rechtsextremisten Bernhard Schaub reichen sie bis ins Jahr 2013 zurück, von damals existiert ein Brief an die Schulleitung im vertraulichen Ton; und 2019 noch war der selbsternannte „Volkslehrer“ Nikolai Nerling Gast bei einer Theatervorstellung in der Schule, als er wegen seiner Verfehlungen längst aus dem Schuldienst in Gesundbrunnen entlassen worden war. Der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) zufolge soll auch die Geschichte des Nationalsozialismus im Unterricht unzureichend behandelt worden sein, ein früherer Lehrer berichtete in der Dokumentation, das „Tagebuch der Anne Frank“ sei als Lektüre nicht willkommen gewesen.

Der WDR-Film hat nicht nur im Bezirk viel Aufsehen erregt. Auf Nachfrage der Linken-Abgeordneten Regina Kittler kündigte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Donnerstag im Abgeordnetenhaus an, die Schule erneut zu überprüfen. In Kommentaren in den sozialen Medien meldeten sich derweil auch Nutzer*innen zu Wort, die angaben, ihr Kind besuche die Schule – und ihnen sei bisher nichts von dem aufgefallen, was nun berichtet werde. Die Schulleitung selbst wies alle Vorwürfe pauschal zurück und sprach in einer Pressemitteilung von „verleumderischen“ Behauptungen eines ehemaligen Vorstandsmitglieds. Es handle sich um „längst widerlegte“ und „offensichtlich aberwitzige“ Vorwürfe, hieß es in einer E-Mail an die Eltern, die dem Tagesspiegel vorliegt.

Wozu sie schwieg: Zu den konkreten Verbindungen zu Rechtsextremist Schaub und den Vorwürfen von Lücken im Unterricht, wenn es um die deutsche Geschichte geht. Stattdessen verwies die Leitung auf eine Überprüfung durch die Schulaufsicht im vergangenen Jahr. Die hatte die Schule tatsächlich von Februar bis November unter die Lupe genommen. Es gab Unterrichtsbesuche, eine Sichtung von Akten, Gespräche mit der Schulleitung und der Elternvertretung, auch schriftliche Stellungnahmen aktueller und ehemaliger Lehrkräfte wurden eingeholt. Zu den Rechtsextremismus-Vorwürfen  habe es dabei „zunächst keine Anhaltspunkte im Hinblick auf eine Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern“, teilte die Senatsbildungsverwaltung mit.

Mängel wurden trotzdem festgestellt: etwa bei der „Orientierung am Rahmenlehrplan“ und der Beteiligung von Eltern und Schülern. Auf Nachfrage von Tagesspiegel Leute Marzahn-Hellersdorf erklärte die Bildungsverwaltung an diesem Dienstag, was es damit auf sich hatte. Grundsätzlich hätten freie Träger einen großen Freiraum, erklärte eine Sprecherin. Im Fall der Elsengrund-Schule drückt sich das darin aus, dass sie nach dem Waldorflehrplan arbeitet und den sogenannten Epochenunterricht praktiziert, auch wenn sie inzwischen vom Dachverband der Waldorfschulen ausgeschlossen wurde.

Geprüft worden sei im vergangenen Jahr etwa, wie Themen im Epochenplan verankert sind. „Eine Beanstandung war, dass das Fach Politische Bildung im sog. Epochenplan der Schule nicht einzeln als Unterrichtsfach vorgesehen war“, teilte die Bildungsverwaltung nun mit. „Nach Angaben der Schulleitung wurden diese Inhalte in den Fächern Geschichte und Sozialkunde mit unterrichtet.“ Die Schulaufsicht erteilte daher die Auflage, ab dem zweiten Halbjahr das Fach Politische Bildung explizit auszuweisen. „Wir werden die Umsetzung prüfen und auch ansehen, welche Inhalte in den einzelnen Epochen vermittelt werden.“ Müsste ein Ausblenden der NS-Geschichte nicht in den Themen von Klassenarbeiten und Klausuren auffallen? „Bisher wurden keine Klassenarbeiten, Klausuren oder die Vermittlung bestimmter Lerninhalte geprüft“, berichtete die Bildungsverwaltung dazu. Allerdings führe die Schule die Jugendlichen erfolgreich zu Abschlüssen, wofür gewisse Inhalte vermittelt worden sein müssten. „Nun wird noch mal genauer geprüft, wie diese Leistungen zustande kommen.“ Zum „Tagebuch der Anne Frank“ gebe es bisher gegensätzliche Aussagen. „Der Frage wird weiter nachgegangen.“

Ein anderer Mangel ist inzwischen abgestellt worden: Nach Tagesspiegel-Informationen gab es in der Vergangenheit keine Gesamtelternvertretung. Die Bildungsverwaltung bestätigte dies nun. Dass die Schulaufsicht im November mit Elternsprecher*innen reden konnte, lag nur daran, dass sie vorher eingefordert hatte, ein entsprechendes Gremium zu gründen. „Das wurde umgesetzt“, berichtete die Verwaltung am Dienstag.

Auf eine Aufklärung der Vorwürfe dringt auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Es müssten auch „abwiegelnde Aussagen“ der Schulleitung hinterfragt und überprüft werden, sagte die Linken-Politikerin dem Tagesspiegel. Sie plädiert vor allem dafür, eine Anlaufstelle für Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen zu schaffen, die sich vertraulich äußern wollen. Auf Paus Vorschlag, eine Ombudsperson einzusetzen, reagierte die Bildungsverwaltung mit dem Hinweis, dass es bereits eine Ansprechpartnerin gebe, die alles vertraulich behandle: Doreen Beer, im vergangenen Jahr als Anti-Mobbing-Beauftragte für Berlins Schulen eingesetzt (hier ein Porträt), stehe auch im Fall der Freien Schule am Elsengrund für Beschwerden zur Verfügung. „Sie verfügt über große Erfahrung bei schwierigen Schulsituationen“, sagte eine Sprecherin. Beer ist hier zu erreichen.

Tagesspiegel-Berichte über die Vorwürfe gegen die Mahlsdorfer Schule:

Korrekturhinweis: In einer früheren Version hatten wir die Sprecherin der Bildungsverwaltung mit der Aussage zitiert, die Anti-Mobbing-Beauftragte verfüge über große Erfahrung bei „schwierigen Schulinstitutionen“. So war es uns auch übermittelt worden. Die Bildungsverwaltung meinte allerdings „Schulsituationen“. Das Zitat haben wir entsprechend geändert.

Ingo Salmen ist Online-Redakteur beim Tagesspiegel. Und bei Twitter ist er auch zu finden. Wenn Sie Anregungen, Kritik, Wünsche, Tipps haben, schreiben Sie ihm bitte eine E-Mail an leute-i.salmen@tagesspiegel.de

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