Namen & Neues
"avenidas" - Bilanz einer gescheiterten Debatte
Veröffentlicht am 30.01.2018 von Ingo Salmen
Um 21.58 Uhr am vergangenen Mittwoch nahm die Debatte um die Fassade der Alice-Salomon-Hochschule, um Kunstfreiheit, Sexismus und Political Correctness endgültig bizarre Züge an. Da verschickte Jens Spahn einen Tweet mit dem Text des Gedichts „avenidas“, das die ASH bald übermalen will, und Jens Spahn hat bisher noch jede Debatte gekapert, die ihm ein wenig Effekthascherei versprach. Der Springer-Verlag ließ Gomringers ruhige Verse nach der Entscheidung der Hochschule über das Laufband an der Fassade seines Hochhauses wandern, das sonst in leuchtender Schrift die Freilassung von Deniz Yücel fordert. Und Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die bis dahin in keiner Weise dazu beigetragen hatte, in dem monatelang öffentlich ausgetragenen Konflikt in ihrem Wahlkreis auch nur irgendwie zu moderieren, war der Hochschule nicht weniger als „Kulturbarbarei“ vor.
Wie konnte es so weit kommen? 2011 ehrte die ASH mit Eugen Gomringer einen der Begründer der Konkreten Poesie mit ihrem Alice-Salomon-Poetikpreis. Der Dichter dankte mit einer Schenkung: Seit sieben Jahren ziert nun sein Schlüsselwerk „avenidas“ von 1951 die Südfassade in Hellersdorf. Einwände dagegen gab es immer wieder. 2016 aber griff die Studierendenvertretung die Kritik auf: Sie interpretierte das Gedicht so, dass es eine patriarchale Kunsttradition fortschreibe und zugleich Frauen an sexistische Erfahrungen erinnere. Das Gedicht wurde Thema im Akademischen Senat, dem höchsten Gremium der Hochschule – und der beschloss mit knapper Mehrheit, einen Ideenwettbewerb für eine Neugestaltung der Fassade zu starten.
Hier dürfte der Urfehler für das Scheitern der Debatte zu finden sein. Eine Institution, die sonst in jeder Hinsicht für Empathie und Inklusion stehen will, dazu forscht, das lehrt, dafür öffentlich eintritt, hat genau das missachtet, als sie es praktisch hätte anwenden müssen: Rücksicht zu nehmen auf den Betroffenen. Statt frühzeitig das Gespräch mit Gomringer zu suchen, bezog sie ihn erst nach der Entscheidung ein. Dass der Dichter gekränkt war, auch wenn der AStA beteuerte, doch nie ihn persönlich gemeint zu haben, ist kaum verwunderlich. Entsprechend deutlich reagierte er, sprach wiederholt von Zensur. Die Hochschulleitung gestand diesen Fehler später auch ein – doch dann ließ er sich kaum mehr heilen. Alle weiteren Schritte konnten nur noch hilflose Versuche sein, irgendwie vernünftig damit umzugehen.
Rechtfertigt das die heftigen Reaktionen? Natürlich nicht. Als im Sommer 2017 die öffentliche Debatte um „avenidas“ geradezu ausbrach, ließen auch Menschen des Wortes mitunter alle sprachlichen Hemmungen fallen. Die Schriftstellervereinigung PEN verbreitete eine Stellungnahme, in der von einem „barbarischen Schwachsinn“ und „Bilderstürmerei“ die Rede war, andere sprachen von „Säuberung“ oder verglichen das Vorhaben der Hochschule mit der Bücherverbrennung der Nazis. Viele ließen sich verächtlich über „die Studentinnen“ wie über kleine Mädchen aus, obwohl es sich um einen legitimen Standpunkt handelte, den gewiss kein Rektor autoritär abkanzeln durfte. Natürlich kann man das Gedicht für harmlos halten, man kann sich an seiner Schönheit und Schlichtheit erfreuen und diese – gerade nicht nur unter Studentinnen verbreitete – Lesart ablehnen. Man kann die Übermalung als Überreaktion auffassen und das auch als eine Grenzverschiebung zu Lasten der Kunstfreiheit sehen (selbst wenn die ASH das Recht hat, ihre Fassade nach eigenem Willen zu gestalten). Wer aber auch nur ansatzweise erlebt hat, wie aufgewühlt diese Gesellschaft seit einigen Jahren ist und wie hasserfüllt ihre Debatten sind, der kann kaum verantworten, sprachlich so harsch auszuteilen – bis hin zu einer Staatsministerin für Kultur.
Es ist tatsächlich ein Kulturkampf. Die Begründung der „avenidas“-Kritiker, die Fragen nach dem Verhältnis der Geschlechter und angemessener Sprache in der Öffentlichkeit aufwirft, hat genau die auf den Plan gerufen, die um den Untergang des Abendlandes fürchten. Doch das sollte auch die ASH aufhorchen lassen: Es sind eben nicht nur die üblichen Verdächtigen, es sind viele vernünftige Menschen, die mit der Entscheidung nicht einverstanden sind – wie auch immer sie das dann artikulierten. Bei einer Podiumsdiskussion im November fragte die Publizistin Andrea Roedig: „Warum entsteht der Eindruck, dass es im Gender-Diskurs um autoritäre Sprachverbote geht? Hat die Gegenseite nur unrecht?“ Dieser Zweifel verhallte – wird die Hochschule, werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Gender-Diskurs ihn noch aufgreifen?
Zum Bruch kam es mit einem langjährigen Partner. Nachdem vergangenen Dienstag die endgültige Entscheidung gefallen war, kündigte das Haus für Poesie die Kooperation beim Poetikpreis auf. Dabei sollen doch künftige Preisträger alle fünf Jahre die Fassade neu gestalten. Wie geht es nun weiter? „Der Poetikpreis bleibt, der Beschluss ist auch nicht hinfällig“, sagt eine Sprecherin der Hochschule. Im Frühjahr steht ohnehin die Neuwahl der Jury an, die nächste Verleihung ist Anfang 2019 vorgesehen. Von Gomringers Drohung mit juristischen Schritten habe man bisher nur aus den Medien gehört. Das Telefonat zwischen ihm und Rektor Uwe Bettig sei „freundlich“ gewesen. Viele sagen nun, der Dichter sei beschädigt, sein Name für immer mit dem Sexismus-Vorwurf verbunden. Ich halte das nicht für überzeugend. Gomringer hat mehr Sympathisanten als je zuvor. Nicht zuletzt, seit er auf die Übermalung antwortete – mit einem neuen Gedicht. Ingo Salmen