Namen & Neues
Flüchtlingsunterkünfte - eine Frage der Gerechtigkeit
Veröffentlicht am 27.02.2018 von Ingo Salmen
Man muss nicht zur Gruppe der Radikalen zählen, zum Kreis der Fremdenhasser und Deutschtümler, um mit der Flüchtlingspolitik in dieser großen Stadt Berlin zu hadern. Ein Beispiel dafür ist unsere Leserin Karin Hohenhaus. „Mein Sohn wohnt im Murtzaner Ring. Auf der Seite zur Poelchaustraße, Martha-Arendsee-Straße, steht eine neugebaute MUF. Luftlinie 400 Meter. Jetzt kommt Luftlinie 350 Meter eine neue MUF auf die Seite zum Springpfuhlpark“, schrieb sie vergangene Woche. „Unsere gesamte Familie wählt unterschiedlich im linken Spektrum, aber man bekommt angesichts dieser Planung schon Zweifel. Es wird einfach in ein Gebiet reingepfropft, und die Menschen müssen zusehen, wie sie damit klarkommen, weil es keine weitere Infrastruktur für die angesiedelten Menschen gibt. Wir schaffen uns den AfD-Zulauf selbst.“
Gegen die Planung hat das Bezirksamt mehrere Einwände angemeldet. Das teilte Bürgermeisterin Dagmar Pohle am Donnerstag bei der Bezirksverordnetenversammlung mit. Sowohl im Bereich des Guts Hellersdorf, als auch am Murtzaner Ring, die der Senat als Standorte für Modulare Flüchtlingsunterkünfte ausgewählt hat, fehle es an Kitas und Schulen, um neue Bewohner aufzunehmen, sagte die Linken-Politikerin. Darauf werde der Bezirk in seiner Stellungnahme an die Landesregierung hinweisen. Und auch eines der beiden Grundstücke ist bei der Prüfung durchgefallen: Wohnungsbau sei auf dem bisher als Gewerbefläche ausgewiesenen Areal Alt-Hellersdorf 17 „weder gewünscht, noch sinnvoll“, sagte Pohle. Der Aufsichtsrat der Gesobau, die das Gutsgelände derzeit überplant, habe daher beschlossen, eine Alternative vorzuschlagen, der sich auch das Bezirksamt anschließt: an der Zossener Straße. Der Murtzaner Ring steht allerdings nicht zur Disposition.
Auch grundsätzlich will Pohle nicht am Bau der Einrichtungen rütteln: Zum einen seien sie ein notwendiger Ersatz für die beiden „Tempohomes“ in der Zossener und der Dingolfinger Straße. Zum anderen bleibe der Bedarf bestehen, weil auch weiterhin Flüchtlinge nach Berlin kommen, ohne dass genügend aus den Einrichtungen in Wohnungen des freien Marktes ziehen könnten – weil dort Mangel herrscht.
AfD-Fraktionschef Rolf Keßler hingegen nahm die Standortentscheidung zum Anlass, mit der rot-rot-grünen Flüchtlingspolitik generell ins Gericht zu gehen. Die neuen Unterkünfte würden nur benötigt, weil die Landesregierung sich vorgenommen habe, mehr auf freiwillige Ausreisen als auf Abschiebungen zu setzen. Beide seien aber trotz einer hohen Zahl Ausreisepflichtiger rückläufig. „Der Plan der Koalition ist also gründlich gescheitert“, sagte Keßler. „Es geht nicht ohne Abschiebungen.“ Die Diskussion über neue Unterkünfte sei dann lediglich die Folge dieser Politik. „Wir brauchen keine neuen MUFs, wir brauchen Wohnungen für alle Bürger.“ Auf die grundsätzliche Frage ging Pohle nicht ein, wies aber darauf hin, dass die modularen Unterkünfte so konzipiert sein, dass sie später auch für den allgemeinen Wohnungsmarkt umfunktioniert werden könnten. Die Zahl der verfügbaren Plätze im Bezirk entspreche etwa 1,7 Prozent der Einwohnerzahl. „Das sind nicht zu viele, denen wir helfen“, betonte Pohle.
„Kooperativ und kommunikativ hat’s der Senat vergeigt.“ So kommentierte Thomas Pfeifer von der CDU die Auswahl der Grundstücke für die neuen MUFs. Der Bezirk habe ein „Anrecht“ darauf, vom Senat mehr Unterstützung bei der sozialen Infrastruktur genauso wie bei städtebaulichen Maßnahmen bis hin zu den Gehwegen zu bekommen. Denn die Peripherie trage die Hauptlast in Berlin. „Selbst wenn Pankow genannt ist, das ist nicht der Prenzlauer Berg“, sagte Pfeifer. Pohle stimmte ihm zu. Selbst wenn der Senat inzwischen besser zuhöre, koste es doch „viel Kraft und Nerven“, diesen Bedarf durchzusetzen, sagte die Bürgermeisterin. „Da muss man auch renitent sein.“
Fortschritte seien aber erkennbar: Zum Beispiel seien für die Umfeldgestaltung bei der Unterkunft Paul-Schwenk-Straße/Martha-Arendsee-Straße in diesem Jahr Mittel bereit gestellt worden. An diesem Dienstag begannen Baumfällarbeiten für eine Lärmschutzwand. Doch das Beispiel zeigt auch, was sich nicht wiederholen darf: Als der Flüchtlingszuzug am größten war, mussten zügig Heime her – die Ergebnisse der Anwohnerbeteiligung werden nun zwei Jahre später umgesetzt, was relativ schnell ist. Die Frage ist nur: Kann man heute nicht beides gleichzeitig umsetzen, wo der Druck nicht mehr so groß ist? Der Senat sollte die Signale aus den Bezirken hören.
Wie viele Flüchtlinge nehmen eigentlich die anderen Bezirke auf? Auch danach fragte Leute-Leserin Karin Hohenhaus. Die Belegung ändert sich von Tag zu Tag. Nach Zahlen des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten von Mitte Februar, die dem Tagesspiegel vorliegen, liegt Marzahn-Hellersdorf mit 3600 Flüchtlingen knapp hinter Pankow (30 mehr) sowie Lichtenberg (3800). Alle drei Bezirke haben aktuell jeweils etwa 15 Prozent der Asylbewerber untergebracht. Spandau kommt auf rund 12 Prozent, Tempelhof-Schöneberg noch auf 9 Prozent, Treptow-Köpenick auf 8 Prozent, die anderen fallen deutlich ab. In Charlottenburg-Wilmersdorf leben lediglich 1500 Flüchtlinge (6 Prozent), in Steglitz-Zehlendorf 1300 (5 Prozent), in Reinickendorf 1100 (knapp 5 Prozent), in Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Neukölln zwischen 850 und 1000 (zwischen 3 und 4 Prozent).
Nun gibt es verschiedene Kriterien für eine gerechte Verteilung. Wenn das enge Neukölln beispielsweise schon einen höheren Migrantenanteil hat, kann es Gründe geben, mehr Flüchtlinge am weiten Stadtrand mit weniger Ausländern unterzubringen. Doch die Statistik zeigt auch: Marzahn-Hellersdorf muss auf einmal mehr als 500 Kinder im Kita-Alter aufnehmen und 600 Kinder im schulpflichtigen Alter. Das sind sechsmal so viele wie in Neukölln. Der Ruf nach deutlich besserer Infrastruktur ist berechtigt – und die schnelle Umsetzung von zentraler Bedeutung für die Akzeptanz im Bezirk.