Namen & Neues
Todesfall in Hellersdorf gilt nun als rechte Gewalttat
Veröffentlicht am 08.05.2018 von Ingo Salmen
Die Berliner Polizei ändert ihren Blick auf politisch motivierte Gewalt. Sechs Tötungsdelikte mit sieben Todesopfern stuft sie neuerdings als rechtsextreme Kriminalität ein, eines davon in Hellersdorf. Das ist das Ergebnis einer gründlichen Untersuchung von zwölf Fällen der Jahre 1990 bis 2008 durch ein Forschungsteam der Technischen Universität. Den Anlass dafür gaben langjährige Tagesspiegel-Recherchen, die maßgeblich mein Kollege Frank Jansen vorangetrieben hat. Nach offizieller Zählung starben damit seit der Wiedervereinigung nun neun Menschen in Berlin durch Gewalt von Neonazis.
Der Hellersdorfer Fall ereignete sich am 5. November 2001. Bier, Weinbrand und läppische Schulden von 40 Mark lösten an jenem Tag einen Gewaltexzess aus. Zwei rechtsextreme Brüder haben schon den ganzen Tag gesoffen, als sie mit einem dritten Rechtsextremisten gegen 21.30 Uhr die Wohnung ihrer Mutter aufsuchen. Sie wollen Ingo Binsch, deren Freund, stellen und Geld zurückverlangen, dass sie ihm gegeben haben. Schnell schlagen die beiden Brüder zu, mehrfach und heftig. Dann flüchten sie in eine Kneipe in der Nähe – und saufen weiter. Binsch klagt danach über Schmerzen, die Frau ruft die Feuerwehr, doch eine halbe Stunde vor Mitternacht ist er tot: Herzinfarkt durch Stress.
Das Landgericht verurteilte die Täter zu Strafen zwischen dreieinhalb und sechseinhalb Jahren. Ein rechtes Motiv erkannten die Richter nicht. Die Wissenschaftler sehen das anders: Sie wägen ab zwischen einer extrem schweren Kindheit mit Gewalt- und Alkoholerfahrungen und Vorwürfen der Brüder gegen Binsch, gewalttätiger Alkoholiker zu sein, auf der einen Seite und der laufend praktizierten Gruppengewalt in der rechtsextremen Szene, in der sich die Täter damals bewegten, auf der anderen Seite. Aktuell ausschlaggebend für die Einordnung waren für das Forschungsteam die „Entstehungszusammenhänge der kollektiven Gewalttätigkeiten in den rechtsextremen Gewaltmilieus“.
Diese Abwägung spielt auch eine Rolle in einem anderen Fall im Bezirk. Im August 2008 wurde ein vietnamesischer Zigarettenhändler vor einem Supermarkt in der Märkischen Allee erstochen. Der Täter hatte ihn zuvor mehrfach aufgefordert, den Verkauf zu unterlassen. Er machte die Händler für das Asthma seiner Freundin verantwortlich. In der Würdigung des Falls kommen die TU-Wissenschaftler heute zu dem Schluss, dass der Messerstecher zwar an feindselige Einstellungen in der Gesellschaft gegenüber Vietnamesen angeknüpft habe, es aber keine Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung oder eine Einbindung ins rechtsextreme Milieu mit seiner Gewalthabitualisierung gab. Entscheidend war hier eine Schizophrenie-Erkrankung, weshalb das Gericht den Mann damals auch in eine Psychiatrie einwies.
Fremdenfeindliche Ressentiments waren hingegen am 24. April 1992 ein zentraler Faktor, als ein polizeibekannter Schläger vor einem Supermarkt am Brodowiner Ring in Marzahn den Vietnamesen Nguyen Van Tu erstach. In diesem Fall entlud sich der Frust des Täters über den Verlust seiner Stelle als Maurergeselle in Kaulsdorf in einem Akt der Aggression gegenüber vietnamesischen Händlern. Ausgangspunkt war ein Saufspiel mit Apfelkorn, irgendwann trat er Warenkartons um, die Situation schaukelte sich hoch, die Clique holte Verstärkung, dann folgte der Griff zum Butterflymesser. Auch hier sehen die Forscher Anzeichen für einen in der Gruppe eingeübten Umgang mit Gewalt – und befürworten die bereits erfolgte Einordnung als rechte Gewalt durch die Polizei.
Diese Taten sind nicht nur ein Fall für die Vergangenheit. Rechte Straftaten haben in Berlin im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Das ergab eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten June Tomiak. Die Polizei registrierte insgesamt 1942 Fälle „politisch motivierter Kriminalität rechts“. Im Jahr 2016 waren es 1779, im Jahr 2015 wurden 1686 Fälle gezählt, wie Laura Hofmann und Frank Jansen im Tagesspiegel berichten. Die Zahl der Gewalttaten ging allerdings zurück. Der Anstieg erklärt sich durch das „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ in 812 Fällen. Mit anderen Worten: Die Nazis treten selbstbewusster auf. In Marzahn-Hellersdorf verteilten sich die insgesamt 101 Fälle (2016: 133) auf neun Gewalt-, 43 Propaganda- und 49 sonstige Delikte.