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"Nacht der Solidarität": Berlin will seine Obdachlosen zählen, Helfer gesucht

Veröffentlicht am 03.12.2019 von Ingo Salmen

Berlin will seine Obdachlosen zählen, Helfer gesucht. Wie viele Obdachlose gibt es eigentlich auf den Straßen Berlins? Das will der Senat herausfinden und organisiert deshalb eine große Zählaktion: Bei einer „Nacht der Solidarität“ vom 29. auf den 30. Januar sollen in der ganzen Stadt Freiwillige ausschwärmen und notieren, wo sie Menschen antreffen, die im Freien übernachten. Ziel ist es, die Hilfe für Menschen ohne Wohnung künftig besser zu organisieren. Für die Rekrutierung der Helfer*innen ist berlinweit die Freiwilligenagentur Marzahn-Hellersdorf zuständig – und die Resonanz ist schon jetzt, zwei Monate vor der Aktion, überwältigend: 2859 Freiwillige hatten sich bis Montagmittag über das Online-Portal angemeldet, wie der Chef der Agentur, Jochen Gollbach, mir am Telefon berichtete.

Eigentlich hatten die Organisatoren der Senatsverwaltung für Soziales nur mit rund 2000 Helfer*innen kalkuliert. Doch jetzt sollte es möglich sein, die Zahl der Teams auf 500 oder mehr zu erhöhen und damit die Bereiche, die sie ablaufen müssen, zu verkleinern – um somit auch die Erfassung zu verbessern. Doch es gibt noch Lücken: In Spandau haben sich erst 83 Freiwillige gemeldet, in Marzahn-Hellersdorf gut 100, in Reinickendorf auch nur 128. Um die 300 dürften es in jedem Bezirk schon sein, denn nicht jeder wird am Ende tatsächlich auch erscheinen.

Reichlich Solidarität – und das mitten in der Nacht. Ob sich die Obdachlosen da nicht bedanken, wenn sie in ihrem Schlaf gestört werden? „Es wird niemand aufgeweckt, nicht an Zelten oder Schlafsäcken gerüttelt“, stellt Gollbach klar. „Wichtig ist, dass die Privatsphäre gewahrt wird.“ Das bedeutet auch, dass nur das öffentliche Straßenland und dazugehörige Bereiche sowie Parks, sofern sie nicht abgeschlossen sind, von den Teams abgeschritten werden. Abbruchgebäude oder private Grundstücke würden ausgespart, betont Gollbach. „Es werden nur die gezählt, die auch gesehen werden.“ Die Zählung ist daher zwangsläufig unscharf, aber das Ergebnis immer noch weitaus genauer als die derzeit kursierenden Schätzungen von 6000 bis 10.000 Wohnungslosen in der Stadt. Im Sinne des Datenschutzes wird auch nicht der genaue Lagerplatz, die einzelne Straße erfasst, sondern nur das Gebiet markiert.

Warum muss das eigentlich alles in der Nacht erfolgen? Eine Antwort ist simpel: weil sich praktisch alle Obdachlosen dann zur Ruhe gelegt haben, statt sich durch die Stadt zu bewegen, und nur damit eine halbwegs exakte Zählung sichergestellt ist. Eine weitere Antwort ist spannend: weil die Senatsverwaltung auch der Frage nachgehen will, ob Verdrängungseffekte erkennbar sind. Die Vermutung: Wegen der Schließung von Baulücken im Innenstadtbereich finden die Wohnungslosen immer weniger Schlafplätze und weichen deshalb vermehrt abends in die Randbezirke aus – nur um am nächsten Tag wieder zum „Arbeiten“ ins Zentrum aufzubrechen. „Bei uns in Marzahn-Hellersdorf war anfangs immer von acht Obdachlosen die Rede“, berichtet Gollbach, „doch schon durch Gespräche mit verschiedenen Einrichtungen wird klarer, dass es nicht nur acht sein können.“

Auf bis zu drei Dutzend schätzt Monique Stryczynski die Zahl der Obdachlosen im Bezirk. Und damit meint sie allein die Menschen, die sich tatsächlich ohne festes Dach über dem Kopf durchs Leben schlagen müssen. Stryczynski ist Sozialpädagogin beim Projekt „Respekt + Halt“, einer zwar vom Bezirk co-finanzierten, aber doch unabhängigen Sozialberatung der Wuhletal gGmbH. Mit ihrem Kollegen Jan Schwab wendet sie sich besonders an Wohnungslose. Ihr Büro befindet sich derzeit noch in einem großen Obdachlosenheim in der Otto-Rosenberg-Straße, direkt am S-Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße. 600 Menschen aus ganz Berlin sind dort untergebracht, wie Stryczynski berichtet, alle Plätze seien belegt. „Wir haben Klienten getroffen, die wohnen da schon fast zehn Jahre“, erzählt sie. „Die gelten als wohnungslos, Kostenträger ist das Jobcenter.“ Pro Nacht koste die Unterbringung 25 Euro. „Eine Wohnung wäre da billiger.“ Nur: Es gibt kaum welche in Berlin. Solche extrem langen Aufenthalte seien nicht an der Tagesordnung. Doch viele wohnten durchaus ein Jahr in der Unterkunft.

Zuständig blieben aber die Bezirke, aus denen sie stammen, erklärt Stryczynski, weshalb die Obdachlosen oft für Behördengänge quer durch die Stadt fahren müssten. „In ganz Marzahn-Hellersdorf finden Sie Einrichtungen, die Wohnungslose aufnehmen“, berichtet die Sozialpädagogin, „inklusive Hostels und Pensionen“. Sie plädiert dafür, größere Betreiber dazu zu verpflichten, Sozialarbeiter einzustellen, die Hilfe organisieren. Das sei bislang einfach nicht vorgesehen. Ein Problem sei auch, dass Wohnungslose oft innig mit ihrem Hund verbunden seien, dieser aber keinen Zutritt zu einer Unterkunft habe – und sie somit keine Lösung darstelle. Was Stryczynski außerdem immer häufiger feststellt: dass Alleinerziehende oder sogar ganze Familien mit Kindern Zuflucht in den Heimen suchen. „Kinder passen da einfach nicht rein.“

Auch wenn die Aktion „Nacht der Solidarität“ heißt, ist eines nicht geplant: dass die Helfer*innen den Obdachlosen auch Proviant oder ähnliches mitbringen. Allerdings werden sie Heftchen dabei haben, in denen Hilfsmöglichkeiten in der Stadt aufgelistet sind, wie Gollbach erläutert. Wer wach ist und gesprächsbereit, soll auch einen kleinen Fragebogen beantworten, den die Teams in fünf Sprachen dabei haben werden. Da geht es dann um die Altersgruppe, Geschlecht, Herkunft, Familienstand oder die Frage, ob Obdachlose einen Hund haben. In alles das werden die Helfer*innen am Abend ab 19 Uhr in ihren Zählbüros, die noch festgelegt werden, eingeführt, die eigentliche Zählung soll von 22 bis 1 Uhr dauern. Wer mitmachen will, sollte also erwachsen und gut zu Fuß sein. In Mitte könne man vielleicht jede Straße abgehen, sagt Gollbach. „Aber in Kaulsdorf zum Beispiel gibt es ja kilometerlange Einfamilienhaussiedlungen, da setzen wir darauf, dass sich Leute melden, die sich in ihrem Kiez auskennen und wissen, wo sie suchen müssen.“

Soll denn diese ganze Einsatzbereitschaft nach einer Nacht verpuffen? „Für uns steht erst mal im Vordergrund, Menschen für das Thema zu interessieren, auch für ein kurzfristiges Engagement“, sagt Gollbach. „Wir freuen uns, wenn daraus ein längerfristiges Engagement wird.“ Diese Erwartung sei mit dem Aufruf jedoch nicht verbunden. Allerdings sei die Bereitschaft oft höher, regelmäßig etwas für die Gesellschaft zu tun, wenn man erst aktiv geworden sei. „Wir werden deshalb nach Ende der Aktion alle Freiwilligen noch mal anschreiben und fragen, ob sie Interesse haben, sich weiterhin zu engagieren.“ – Text: Ingo Salmen
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Diesen Text haben wir dem neuen Tagesspiegel-Newsletter für Marzahn-Hellersdorf entnommen. Den Bezirksnewsletter gibt es in voller Länge und kostenlos unter leute.tagesspiegel.de.
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