Namen & Neues

Wie demokratisch ist die AfD? Protest und Debatte in der BVV

Veröffentlicht am 03.03.2020 von Ingo Salmen

Wie demokratisch ist die AfD? Protest und Debatte in der BVV. Die ganze Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft hat sich am Donnerstag auf vielfältige Weise und in all ihrer Widersprüchlichkeit in der Bezirksverordnetenversammlung gezeigt. Es gab eine scharfe Debatte um die AfD und die Frage, ob sie den Frieden im Lande gefährdet, ein CDU-Verordneter verkündete seinen Austritt aus Partei und Fraktion, weil ihm die Christdemokraten zu links geworden sind, vor der Tür demonstrierten Antifaschist*innen und warfen der CDU derweil vor, sich nicht klar genug gegen die AfD zu stellen. In dem ganzen Lärm drinnen wie draußen gab es nur ein paar Augenblicke des Innehaltens: als BVV-Vorsteherin Kathrin Henkel (CDU), die ein zentrales Ziel der Antifa-Kritik war, am Beginn der Sitzung zu einer Schweigeminute für die Opfer des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau eine Woche zuvor aufrief.

Zwölf Polizei-Bullis und andere Einsatzwagen waren am Nachmittag vor dem Freizeitforum aufgefahren. „Betriebsausflug machen wir gemeinsam“, sagte ein Beamter lapidar. Die Polizei hatte auch der BVV empfohlen, fürs Freizeitforum selbst einen privaten Sicherheitsdienst zu engagieren. Linken-Fraktionschef Björn Tielebein nannte diese Maßnahme „völlig überzogen“. 50 bis 100 linke Demonstrierende hatten sich angekündigt. Sie wollten ihre Ablehnung der Teilnahme der AfD am Gedenken für NS-Opfer Ende Januar auf dem Parkfriedhof dokumentieren und zugleich gegen den Polizeieinsatz bei der Veranstaltung von BVV und Heimatverein protestieren. Es kamen knapp zwei Dutzend Linke, Verteter*innen antifaschistischer Gruppen, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) und auch des Studierendenausschusses der Alice-Salomon-Hochschule.

Der Ton war bisweilen scharf. „Wir sind da, um die demokratischen Parteien daran zu erinnern, dass ein Gedenken mit der AfD unwürdig ist“, sagte Tim Reiche, Pressesprecher des Bündnisses „Antifaschistisch gedenken“. „Es war die Berliner Polizei, die entschied, wer würdig ist zu gedenken oder nicht“, kritisierte er die Kontrollen bei der Veranstaltung auf dem Parkfriedhof. Reiches Forderungen: eine andere Organisation als bisher durch BVV und den in seinen Augen „faschofreundlichen“ Heimatverein (der bereits seinen Rückzug angekündigt hat) und eine „Ausschlussklausel“ für Personen, die rassistisch agitierten. Das Argument, die BVV könne eine ihrer Fraktionen schon wegen des Gleichheitsgrundsatzes nicht ausladen, wies er als „technokratisches Verständnis von Demokratie“ zurück.

Auch ein AStA-Vertreter kritisierte „freies Geleit“ für die „neofaschistische“ AfD, während die Polizei Opfer des Faschismus warten ließ. „Die Anwesenheit der AfD ist eine Verhöhnung aller Opfer und ihrer Nachfahren!“ Der Studierende stellte die Partei und ihr Gedankengut in einen Zusammenhang mit Anschlägen wir in Hanau oder Halle.

Im Freizeitforum gab es unversehens eine Gegenrede. Der Verordnete Sergej Henke erläuterte in einer persönlichen Erklärung in der BVV, warum er aus der CDU und der Fraktion ausgetreten ist. In der Vergangenheit hatte sich der Russlanddeutsche, der bald 80 wird, um die Migration und Integration gekümmert, „doch seitdem die AfD mit von der Partie ist, ist das Thema tabu“, wie er sagte. „Man kann über das Problem schlecht reden, ohne eigene Fehler und konzeptionelle Hilflosigkeit eingestehen zu müssen.“ Seiner alten Partei attestierte Henke einen „Linksruck“, sie habe sich vom Konservatismus als „jahrzehntelange Wertebasis“ verabschiedet. „Um sich der SPD anzudienen, gab die CDU ihre traditionellen Werte, Familie, Ehe, Herkunft, Heimat, Nation, Tradition, Bestand und andere mehr auf“, sagte der Verordnete. „Das Vakuum, das die CDU hinterlassen hat, besetzte die AfD, auf der gegenüberliegenden Seite entstand ein übermächtiger linker Parteienblock, der seine Daseinsberechtigung im ‚Kampf gegen Rechts‘ sieht.“

Dieser Kampf sei vor allem gegen die AfD gerichtet, was Henke kritisierte. Inhaltliche Auseinandersetzung, Austausch von Argumenten, auch eine Integration ins Gefüge der Parteien in Deutschland würden ihr „verwehrt“. Henke argumentierte auch mit seiner russlanddeutschen Herkunft. Er erinnerte an einen deutschen Stuka-Angriff auf einen Deportationszug im September 1942, den er und seine Mutter nur knapp überlebt hätten – „meine Erfahrung mit dem echten Faschismus“. Er sei dem Land, das ihn aufgenommen habe, „unendlich dankbar“. Deshalb hat Henke kein Verständnis für Leute, die Deutschland kritischer, distanzierter gegenüberstehen. „Wir haben Angst angesichts der wachsenden Schar heimatloser Kosmopoliten, denen ihre Heimat offensichtlich nicht viel wert ist“, sagte er. „Unter den jungen Linksintellektuellen gehören abschätzige Bemerkungen über dieses Land inzwischen zum guten Ton.“

Die nächste Wendung nahm die Debatte bei einem Tagesordnungpunkt, den die AfD zu ihrer Priorität ihrer Sitzung gemacht hatte. Die Fraktion griff sich das Berliner Register heraus, das Bezirk für Bezirk rassistische, antisemitische, homophobe oder extrem rechte Vorfälle dokumentiert. Vom beiläufigen Hitlergruß, über rassistische Angriffe im Nahverkehr bis zu NPD-Kundgebungen ist im Laufe eines Jahres alles dabei. AfD-Fraktionschef Rolf Keßler griff sich eine Meldung aus dem Juni 2019 über wiederholte Diskriminierungen im Unfallkrankenhaus Berlin heraus, die sich nicht bewahrheitet hätten. Das UKB wollte sich nicht dazu äußern, Keßler aber sprach von Rufschädigung und legte dem Bezirksamt einen detaillierten Fragenkatalog vor.

Die Bürgermeisterin ging auf den Vorfall gar nicht erst ein, sondern verteidigte das Register im Ganzen. „Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen machen es notwendig, Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen“, sagte Dagmar Pohle (Linke), um Maßnahmen gegen Rassismus und Rechtsextremismus entwickeln zu können. Das Bezirksamt sei der Auffassung, „dass dieses Register hilfreich ist“. Während die AfD immer nur auf strafrechtlich relevante Fälle abzielte, führten die anderen Parteien immer wieder auch solche Fälle an, die unterhalb dieser Schwelle liegen – aber ein bestimmtes Klima erkennen lassen. Das schließe auch die AfD ein, „wenn Sie Hetze betreiben“, sagte Linken-Fraktionschef Björn Tielebein. Der AfD-Verordnete Jörn Geißler forderte hingegen, das Register müsse „neutral“ sein und nicht nur rechtsextreme Vorfälle erfassen.

Es sei traurig, „dass die BVV diskutieren muss, warum der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus richtig ist“, sagte SPD-Fraktionsvize Dmitri Geidel, auch er mit russlanddeutschen Wurzeln. Das Grundgesetz sei schließlich ein „Gegenentwurf zum Faschismus“. Das sei „gerade jetzt“ wichtig, „wo über Deutschland eine Welle des Rechtsterrorismus herzieht“, sagte der 30-Jährige. Der AfD-Verordnete Rainer Golbik schüttelte währenddessen den Kopf. Pohle griff noch einmal in die Debatte ein und verwies auf Thüringens AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, den Chef des rechten „Flügels“. „Wir werden diese sogenannte Zivilgesellschaft leider trockenlegen müssen“, habe Höcke noch kürzlich bei Pegida in Dresden gesagt. Er sei lieber Wolf als Schaf.

Pohle zitierte auch den früheren CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz: „Man kann anhand der Entwicklung der AfD, anhand der Äußerungen ihres Führungs­personals, anhand ihrer politischen Praxis Punkt für Punkt durchgehen, dass diese Partei inzwischen eine faschistische Partei geworden ist.“ (Quelle: republik.ch) Der AfD-Verordnete Bernd Lau schlug daraufhin auf den Tisch, rief „Das ist ja ungeheuerlich!“ und verließ den Saal. Sein Parteifreund Joachim Nedderhut sagte: „Kommen Sie runter von Ihrem hohen moralischen Ross, Sie sind die Mauermörder-Partei!“ Darauf ging der Linken-Verordnete Olaf-Michael Ostertag ein: Die SED/PDS habe sich schon 1989 vom Stalinismus losgesagt und die Linke danach vielfach ihre Geschichte und die Verbrechen in der DDR aufgearbeitet. „Wir haben diese historische Aufarbeitung getan“, sagte er. Die AfD hingegen stelle sich immer als völlig neue Partei dar und übergehe damit die weltanschaulichen Traditionen, in denen sie stehe. „Genau das ist der Grund, warum wir jeden Tag aufstehen und Widerstand leisten und widersprechen.“

Auch er teile nicht alles, was Höcke sage, betonte Keßler. Warum habe die AfD in Marzahn-Hellersdorf ihn dann eingeladen, wollte der Linken-Verordnete Norbert Seichter wissen. „Ich gehe nach Ihren Bemerkungen davon aus, dass Sie ihm da erklärt haben, wie sehr Sie nicht einverstanden sind mit seinen Äußerungen.“ CDU-Fraktionschef Alexander J. Herrmann, ein Rechtsanwalt, wies die AfD auf die gesellschaftliche Verantwortung hin, die neben der strafrechtlichen bestehe – „und da zündeln Sie, und Björn Höcke, der Ober-Nazi aus Thüringen, zündelt am meisten“. Sein Fraktionskollege Thomas Pfeifer erinnerte an Nedderhuts Bezeichnung von der „roten SA“ für die Antifa vor einem Jahr. Wenn Keßler sich dann beim NS-Gedenken auf dem Parkfriedhof vor die Kamera stelle und in einem Video des AfD-Abgeordneten Gunnar Lindemann behaupte, er werde seinen „Kampf für die Rechtsstaatlichkeit“ fortsetzen, dann passe das eine nicht zum anderen. „Das hat etwas Heuchlerisches.“

Was in der ganzen Debatte kein Gehör fand, war eine Position nicht-weißer Deutscher, denn die sind in der BVV in Marzahn-Hellersdorf nicht vertreten. Ich empfehle Ihnen deshalb einen Kommentar meines Tagesspiegel-Kollegen Kaan Bagci, der in Dietzenbach bei Hanau groß geworden ist – wie Sedat Gürbüz, eines der Opfer des Massakers. Er schreibt: „Warum ich darüber nachdenke, Deutschland zu verlassen.“ – Text: Ingo Salmen

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