Namen & Neues

Das taktische Verhältnis der AfD zum Nationalsozialismus

Veröffentlicht am 02.06.2020 von Ingo Salmen

Als im westlichen Teil Deutschlands 1949 das Grundgesetz in Kraft trat, war dies ein Gegenentwurf zur Terrorherrschaft der Nazis: mit der Menschenwürde und den Freiheitsrechten jedes Einzelnen ganz vorn, einem demokratischen Staatsaufbau und unabhängiger Justiz. Das galt als Konsens im gesamten politischen Spektrum. Mit der Einheit wurde es 1990 zu einer Verfassung für ganz Deutschland. Seinen provisorischen Charakter hatte es da längst abgelegt, weil es sich in jahrzehntelanger Praxis als erfolgreich erwiesen und sogar zum Exportschlager geworden war.

Noch im Jahr 2010 spottete der spätere AfD-Politiker Bernd Pachal hingegen im Blog „Für Gott, Kaiser und Vaterland“ über Freunde dieser Verfassung als „den GG-Liebhabern“. In den Jahren danach fiel er wiederholt durch Äußerungen auf, die erst recht nicht lustig waren – und am 4. März dieses Jahres zu seiner Entfernung aus dem Dienst als Bundespolizist führten – wegen „Verletzung der Pflicht zur Verfassungstreue, Leugnung des Holocausts, Kundgabe antisemitischer Äußerung und Verherrlichung führender Personen des NS-Regimes“.

Am Ende eines achtjährigen Disziplinarverfahrens bescheinigte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Pachal in seinem letztinstanzlichen Urteil eine „Affinität zum Nationalsozialismus“ (hier ein ausführlicher Bericht). Als Bundespolizist im Objektschutz einer deutschen Botschaft hatte er im Sommer 2012 mehrfach vor Kollegen den Holocaust geleugnet, Himmler und Goebbels als „starke Männer“ gewürdigt und sich abschätzig über Juden geäußert. Noch bei der Verhandlung des Verwaltungsgerichts im Jahr 2018 druckste er nur herum, als es um die Judenvernichtung ging – da saß er bereits für die AfD in der Bezirksverordnetenversammlung von Marzahn-Hellersdorf.

Der Umgang mit dem Fall Pachal wirft ein Schlaglicht auf das taktische Verhältnis der AfD zum Nationalsozialismus. Nun, da in der Partei ein Machtkampf tobt, der ganz rechte „Flügel“ um Björn Höcke und Andreas Kalbitz zunehmend in den Blick des Verfassungsschutzes gerät und sich die Einstellungen des Verordneten Pachal nicht mehr abstreiten ließen, leitete der Vorstand des Berliner Landesverbandes am Donnerstag einstimmig ein Parteiausschlussverfahren ein – aber erst nach einem Hinweis der „Frankfurter Allgemeinen“, die wie der Tagesspiegel in der Sache recherchiert hatte. Die AfD teilte dazu mit, von dem Verfahren und dem Urteil bis dahin nichts gewusst zu haben. Pachal selbst machte daraufhin kurzen Prozess und trat sofort aus der Partei aus.

Nazi-Lob und Judenfeindlichkeit waren dabei schon seit Jahren bekannt. Bereits im Oktober 2016 berichtete mein Kollege Sebastian Leber im Tagesspiegel über antisemitische und verschwörungstheoretische Positionen Pachals. In der BVV-Sitzung im Dezember 2016 wies der SPD-Verordnete Dmitri Geidel auf seine lobenden Worte für den Nazi-Schlächter Reinhard Heydrich bei Facebook hin; der Tagesspiegel-Artikel dazu ging inzwischen in das Disziplinarverfahren und das OVG-Urteil ein. Die Reaktion der AfD Marzahn-Hellersdorf seinerzeit: erst „prüfen“, dann „ausdrücklich und vollumfänglich“ distanzieren – nur um in der BVV-Sitzung im Januar 2017 die Kritik der politischen Konkurrenz und die journalistische Berichterstattung als „Schmutzkampagne“ zu diskreditieren.

Der Berliner Landesverband der AfD ging damals geflissentlich über die Artikel hinweg, zu stark fühlte man sich nach der erfolgreichen Berlin-Wahl, zu stark war auch der „Flügel“ in der Partei. Heute hingegen kommt ihr eine Personalie wie Pachal ungelegen, erscheint es ihr opportun, schnell Konsequenzen zu ziehen, um nicht noch mehr Wirbel um die Rolle von Rechtsextremisten in der Partei zu erzeugen.

Vieles spricht dafür, dass die Distanzierung von Pachal nicht aus Überzeugung erfolgte. Dafür genügt ein Blick auf seinen bisherigen Bezirksverband: Der hieß schon 2017 „Flügel“-Chef Höcke im Bundestagswahlkampf willkommen, verteidigte ihn Anfang 2018 gegen den drohenden Parteiausschluss und veröffentlichte erst vor zwei Wochen eine Solidaritätsadresse für Kalbitz. Pachal wusste sich in der ganzen Zeit in der Mitte der AfD: Noch Anfang Mai bestätigte sie ihn als Fraktionsvize und wählte seinen größten Verteidiger, Werner Wiemann, zum Vorsitzenden; zudem gehörte er dem Bezirksvorstand an mit der Abgeordneten Jeannette Auricht an der Spitze. Die ist heute auch stellvertretende Landesvorsitzende der Berliner AfD.

Dieser Kommentar stammt aus dem Leute-Newsletter für Marzahn-Hellersdorf von Ingo Salmen.

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