Namen & Neues
Straßennamen mit "antisemitischen Bezügen" auch in Marzahn-Hellersdorf
Veröffentlicht am 18.01.2022 von Johanna Treblin
Insgesamt 290 Berliner Straßen und Plätze tragen einen Namen, der antisemitische Bezüge hat. Auch 16 Straßen und Plätze in Marzahn-Hellersdorf tragen laut der Studie problematische Namen: Sie erinnern an Personen, die sich in unterschiedlichem Maß judenfeindlich verhalten haben sollen. Die FDP will zwei Straßen im Bezirk nun umbenennen lassen. Sie hat einen entsprechenden Antrag in die BVV eingereicht, die diesen Donnerstag wieder tagt.
Die Zahlen gehen auf den Politikwissenschaftler Felix Sassmannshausen zurück. Er hatte Mitte Dezember, wie berichtet, eine umfangreiche Untersuchung zu antisemitischen Verbindungen der Namensgeber:innen vorgestellt. Beauftragt hatte ihn Berlins Antisemitismusbeauftragter Samuel Salzborn.
Sassmannshausen empfiehlt vier Möglichkeiten im Umgang mit den Namen: weitere Forschungen, eine „Kontextualisierung“ mit Zusatztafeln oder Hinweisen auf digitalen Straßenkarten und im Extremfall die Umbenennung. Nicht immer ist klar: Haben die Namensgeber:innen nur in Einzelfällen antisemitische Stereotype reproduziert, wie es etwa dem damaligen Zeitgeist entsprach? Oder waren sie überzeugte Antisemit:innen und befeuerten Antisemitismus gar?
Die FDP-Fraktion in der BVV fordert nun, die Arndtstraße in Hannah-Arendt-Straße umzubenennen und die Roedernstraße in Gertrud-Bäumer-Straße. Für beide Straßen empfiehlt auch Sassmannshausen eine Umbenennung (Begründung weiter unten). Die FDP schreibt zudem in ihrem Antrag: „Hannah Arendt ist als ins Exil geflohene Jüdin und bekannteste Deutsche Philosophin des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auf Grund der phonetischen Ähnlichkeit ihres Nachnamens zum bisherigen Namensgeber bestens für eine Neubenennung geeignet.“ Und: „Gertrud Bäumer (1873-1954) war eine deutsche Frauenrechtlerin, Politikerin, Publizistin und Schriftstellerin. Gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin Helene Lange gilt sie als bedeutende Figur der deutschen Frauenbewegung. Sie war eine bürgerliche Kritikerin des Nationalsozialismus.“
Bezirksbürgermeister Gordon Lemm (SPD) sagt auf Anfrage zur Studie: „Ich denke, dass eine Auseinandersetzung und gesellschaftliche Bewertung von Gedenkorten wie Straßen durchaus sinnvoll ist.“ Gerade vor dem Hintergrund sich wandelnder Wertvorstellungen könne und sollte man auch über historische Benennungen diskutieren. Die Umbenennung von Straßen sollte dabei aber nur das letzte Mittel sein. „Wir haben bei uns im Bezirk eine Gedenkkommission, die sich mit der Benennung von Straßen und Plätzen auseinandersetzt und hier für den Bezirk Empfehlungen ausspricht. Die Debatte wird sicher in diesem Gremium geführt werden.“
Eine Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von historischen Persönlichkeiten – niemand werde wegen seiner antisemitischen Äußerungen oder Verhaltensweisen mit einer Namenbenennung geehrt – sei gut und wichtig, um das Thema ins Bewusstsein zu rufen und auch generell dafür zu sensibilisieren, wie verbreitet antisemitische Äußerungen und Einstellungen in vielen Teilen unserer Geschichte leider waren. Um dies kenntlich zu machen, ohne die anderen Leistungen dadurch zu schmälern, hält Lemm zusätzliche Erklärtafeln für sinnvoll. Allerdings müsse jeder Einzelfall angeschaut und entsprechend behandelt werden.
Die Straßen mit Begründungen in Marzahn-Hellersdorf sind:
Arndtstraße, benannt nach dem Historiker und Dichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860). Er war Vertreter eines aggressiven Nationalismus, den er mit antifranzösischen Ressentiments begründete. In dem Kontext äußerte er sich auch offen frühantisemitisch. Dies lag in seinem nationalistischen Weltbild begründet. Die Universität Greifswald ist aufgrund des Antisemitismus in Arndts Weltbild umbenannt worden. In Leipzig ist eine Initiative zur Umbenennung der Arndtstraße gescheitert. Sassmanshausen schlägt eine Umbenennung vor.
Cecilienstraße und Cecilienplatz, benannt nach Cecilie, Kronprinzessin von Preußen (1886-1954). Sie war Schirmherrin des antisemitischen Bundes Königin Luise. Sassmanshausen hält eine weitere Recherche für notwendig, und schlägt eine Kontextualisierung, gegebenenfalls eine Umbenennung vor.
Eitelstraße, benannt nach dem Soldaten und Generalmajor Wilhelm Eitel Friedrich Christian Karl von Preußen (1883-1942). Er war der zweitälteste Sohn des Kaisers Wilhelm II. Nach 1918 wurde Eitel Friedrich Mitglied im national-monarchistischen Bund der Aufrechten und aktiv im antisemitischen Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten. Zudem gehörte er zu den Mitbegründern der 1931 ins Leben gerufenen antisemitischen Harzburger Front. Sassmannshausen schlägt eine Kontextualisierung, und nach weiterer Recherche gegebenenfalls eine Umbenennung vor.
Fritz-Reuter-Straße, benannt nach dem Schriftsteller, Dichter und Publizisten Fritz Reuter (1810-1874). In seinen Schriften bediente Fritz Reuter antijüdische Klischees und frühantisemitische Stereotype. Sassmannshausen hält wegen der dünnen Quellenlage weitere Forschung für notwendig und empfiehlt gegebenenfalls Kontextualisierung.
Herderstraße, benannt nach dem Philosophen, Theologen, Kunst- und Literaturtheoretiker Johann Gottfried Herder (1744-1803). Der Aufklärungsphilosoph artikulierte im dritten und vierten Teil seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit frühantisemitische Motive. Sassmannshausen empfiehlt eine digitale Kontextualisierung.
Jahnstraße, benannt nach dem Turnpädagogen, Politiker und Erzieher Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852). Jahn war einer der wichtigsten Vertreter des aufsteigenden deutschen Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts und Mitbegründer der Turnbewegung. In seinen Schriften kolportierte er frühantisemitische Tropen. Praktisch wurden Juden und Jüdinnen von vornherein aus der Mitgliedschaft im von ihm mitbegründeten geheimen Männerbund Deutscher Bund ausgeschlossen. Es soll auch konvertierten Jüd:innen nicht möglich gewesen sein, Mitglied zu werden. Die Initiative „Sport ohne Turnväter“ im Bezirk Pankow, die darauf zielte, den Jahn-Sportpark in Berlin Prenzlauer Berg umzubenennen, ist im Senat gescheitert. Sassmannshausen empfiehlt weitere Recherche und gegebenenfalls eine Umbenennung.
Lohengrinstraße, benannt nach der Oper „Lohengrin“ von Richard Wagner (1813-1883). Wagner war überzeugter Antisemit und Verfasser der antisemitischen Schrift „Das Judenthum in der Musik“ (1850). Werk und Weltbild lassen sich unter anderem deshalb nicht trennen, so Sassmannshausen. Er empfiehlt, die Straße umzubenennen.
Lutherstraße, benannt nach dem Theologen und Reformator Martin Luther (1483-1546). Luther verfasste antijüdische Schriften und war prägend für die weite Verbreitung des christlich motivierten Antijudaismus. Sassmannshausen empfiehlt eine Umbenennung.
Melanchthonstraße, benannt nach dem Theologen, Reformator und Humanisten Philipp Melanchthon (1497-1560). Melanchthon setzte sich für die Verbesserung der Lage von Juden ein, teilte aber antijüdische Ressentiments. Die Handlungsempfehlung von Sassmannshausen lautet:
Weitere Recherche, gegebenenfalls Kontextualisierung.
Pestalozzistraße, benannt nach dem Pädagogen und Schriftsteller Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). In der jüngeren Forschung gibt es Erkenntnisse über frühantisemitische Motive im Werk von Pestalozzi. Weitere Forschung müsste die mögliche Kontinuität antisemitischer Ressentiments bei Pestalozzi in den Blick nehmen. Dies sollte entsprechend vor Ort kontextualisiert werden.
Roedernstraße, benannt nach dem Finanzpolitiker und Reichsstaatssekretär Siegfried Friedrich Wilhelm Erdmann Graf von Roedern (1870-1954). Roedern beantragte 1933 die Mitgliedschaft in der NSDAP (1935 angenommen) und wurde später Ehrenmitglied der SS. Sassmannshausen empfiehlt weitere Forschung und eine Kontextualisierung.
Roseggerstraße, benannt nach dem Schriftsteller Peter Rosegger (1843-1918). Rosegger teilte antisemitische Ressentiments, teilweise wurde er selber von völkischen Kreisen antisemitisch angegangen. Er positionierte sich gegen brachialen Antisemitismus. Sassmannshausen empfiehlt weitere Recherche sowie eine Kontextualisierung.
Strindbergstraße, benannt nach dem Dramatiker, Künstler, Maler und Schriftsteller August Strindberg (1849-1912). Strindberg äußerte sich zunächst offen (früh-)antisemitisch. Nach 1884 soll er sich vom Antisemitismus distanziert haben. Weitere Forschung ist nach Ansicht von Sassmannshausen notwendig.
Sudermannstraße, benannt nach dem Schriftsteller Hermann Sudermann (1857-1928). Sudermann artikulierte in Briefen antisemitische Ressentiments. Die Quellenlage ist aus Sicht von Sassmannshausen dünn, weitere Forschung sei notwendig.
Waldowstraße, benannt nach dem Juristen, Verwaltungsbeamten und Politiker Hans August Wilhelm von Waldow (1856-1937). Von Waldow war Vorsitzender des Landesverbandes Mecklenburg-Strelitz der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei. Von 1923 bis 1932 war er für die DNVP Abgeordneter im Mecklenburgischen Landtag. Sassmannshausens Handlungsempfehlung: Weitere Forschung und Kontextualisierung.
- Verdienter Dichter oder Judenhasser? Wie Berlins Bezirke mit antisemitischen Straßennamen umgehen: T+
- Antisemitische Bezüge bei 290 Straßen und Plätzen in Berlin: Tagesspiegel.de