Namen & Neues
Zwangslager und Euthanasieopfer - Gedenktour am 8. Mai
Veröffentlicht am 10.05.2022 von Johanna Treblin
Eine Frau im bunten Rock, zwei Kleinkinder an der Hand, läuft über den Bürgersteig. Der Flachbau neben ihr ist weiß gestrichen, dazwischen ein paar rote, gelbe und blaue Farbtupfer. Etwa 30 Fahrradfahrer:innen fahren auf der Otto-Rosenberg-Straße an ihr vorbei Richtung Zwangslager Marzahn. Hier hatte Berlin ab 1936 Sinti und Roma untergebracht – um sie kurz vor den Olympischen Spielen aus dem Straßenbild zu verbannen, wie es hieß. Und auf Bitten lokaler Gewerbetreibender hin, wie Wolfgang Brauer erzählt.
Brauer ist Vorsitzender des Heimatvereins, war früher mal Deutsch- und Geschichtslehrer und führt am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, auf Einladung des Marzahn-Hellersdorfer ADFC-Stadtteilgruppe Wuhletal eine Fahrradtour zu Gedenkorten im Bezirk an.
Gemeinsam starteten rund 30 Radfahrer:innen um 14 Uhr am S-Bahnhof Wuhletal. Erste Station war nach einer halbstündigen Fahrt entlang der Wuhle das Zwangsarbeiterlager Kaulsdorf-Süd an der Kaulsdorfer Straße 90. Es war das größte von mehr als 20 Zwangsarbeiterlagern auf dem Gebiet des heutigen Bezirks Marzahn-Hellersdorf. Errichtet wurde es laut Brauer auf dem Land eines enteigneten jüdischen Bauunternehmers zunächst von der Deutschen Reichsbahn. Kurz darauf übergab sie es direkt an die Reichsregierung ab, die es als Durchgangslager für Wolhyniendeutsche nutzte. Das waren Auswanderer aus Deutschland in das Gebiet der heutigen Ukraine, die 1939 per Abkommen mit Stalin zurück nach Deutschland übersiedelt wurden. (Mehr hier)
Später wurden hier insgesamt rund 2000 französische Kriegsgefangene festgehalten. Brauer machte zum Schluss auf einen Flachbau auf der anderen Seite der Wuhle aufmerksam. Er gehörte in den letzten Kriegsjahren zu den Unterkünften der Zwangsarbeiter:innen, nachdem die ursprünglichen Baracken abgebrannt worden waren. Nach der Wende kaufte ein Investor das gesamte Areal – und baute das noch bestehende Gebäude zu einen Wohnhaus aus – was viele Teilnehmende der Tour stark irritierte.
Als nächstes ging es zum Unfallkrankenhaus Berlin. Vorneweg fuhr die gesamte Fahrt über Grit Lehmann, Sprecherin der Stadtteilgruppe. Sie wies den Weg und sorgte gemeinsam mit den übrigen Gruppenmitgliedern dafür, dass unterwegs niemand verloren ging.
Das Krankenhaus war ursprünglich 1893 als „Anstalt für Epileptische Wuhlgarten bei Biesdorf“ gebaut worden und galt lange als Reformklinik. Die Pflegekräfte seien allerdings „säuisch bezahlt“ worden, erzählt Brauer. „Das ist doch heute nicht anders!“, rief eine Frau in die Runde, eine andere pflichtete ihr bei.
Architekt des Klinkerbaus war Hermann Blankenstein, der „Berlin mehr geprägt hat als Schinkel“ (Brauer) – denn er habe unter anderem über 120 Schulen sowie das Urban-Krankenhaus, einige Markthallen und Kirchen erbaut.
Etwas entfernt von den Klinkerbauten im Wuhlgarten finden sich ein Gedenkstein und mehrere Stelen zur Geschichte des Ortes. Unter den Nazis wurden die Bewohner:innen systematisch ermordet – teils abtransportiert und anderswo getötet, teils vor Ort, vermutlich, so Brauer, durch falsche Medikation und indem man sie verhungern ließ.
An unserer dritten Station erwartete uns die Polizei. Wir hielten vor einem mit einem eingehüllten Gebäude, daneben die laute Landsberger Allee und die Tram-Station Brodowiner Ring. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier eine Gedenkstätte befinden könnte. Wir lernten: Das Gebäude gilt als das erste befreite Haus nach Ende des zweiten Weltkriegs, es ist das „Haus des 21. April“. An dem Tag erreichten vor 77 Jahren die ersten Soldaten der Sowjetarmee unter Nikolai Bersarin den östlichen Stadtrand Berlins. Um das damalige Bauernhaus herum: nichts als Felder.
Die Soldaten richteten hier eine Kommandozentrale ein. 1985, erzählt Brauer, wurde das Gebäude als erstes befreites Haus „entdeckt“, der Vorgänger des heutigen Bezirksmuseums Marzahn-Hellersdorf zog ein. Derzeit wird es saniert, hier soll offenbar eine soziale Einrichtung untergebracht werden.
Warum hier nun Polizei stationiert war? Stadtweit hatte die Berliner Polizei am 8. und 9. Mai alle wichtigen russischen Einrichtungen gesichert. Die Straße des 17. Juni und der Boulevard Unter den Linden waren mit hunderten Gittern umstellt worden. Etwa 1800 Beamte sollten im Einsatz sein, um die etwa 50 Versammlungen und Gedenkfeiern zu schützen. 15 Gedenkstätten und Mahnmale sollten von der Polizei geschützt werden. So offenbar auch das Erste befreite Haus.
Auch in der Nähe der Gedenkstätte für das Zwangslager für Sinti und Roma an der S-Bahnstation Raoul-Wallenberg-Straße in Marzahn war Polizei. Hierhin war Otto Rosenberg 1936 zusammen mit seiner Großmutter gebracht worden. Er war erst neun Jahre alt. Rosenberg, der sich als Sinto-Deutscher verstand, wurde später Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg. Er war außerdem Vater der Sängerin Marianne Rosenberg und heutigen Landesverbandsvorsitzenden Petra Rosenberg. Er verstarb 2001 im Alter von 74 Jahren.
Die Gedenkstätte selbst nimmt nur einen sehr kleinen Raum des ehemaligen Lagers ein. Daneben ist ein Obdach- und Wohnungslosenheim errichtet. Und vor zwei Jahren wurde hier im Beisein von Petra Rosenberg das Otto-Rosenberg-Haus eröffnet. Es soll Anlaufstelle für Menschen sein, die Hilfe benötigen: mit Werkstätten für junge Leute und Beratung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen.
Die offizielle Gedenktour endete hier. Wer wollte, machte am Ende noch einen Abstecher in den anliegenden Parkfriedhof, den ehemaligen Armenfriedhof Berlins. Hier findet sich ein Gedenkstein für die ermordeten Sinti und Roma. Und am sowjetischen Ehrenmal wartete nicht nur wieder Polizei – hier hatten viele Menschen bereits Blumen niedergelegt. (Fotos: Johanna Treblin)
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