Namen & Neues

Eine Initiative will Bürgerräte im Bezirk einrichten

Veröffentlicht am 18.10.2022 von Johanna Treblin

Bei der Mammutwahl im Herbst 2021 lag die Wahlbeteiligung in Berlin bei über 75 Prozent. Das war ein deutlicher Sprung zur vorherigen Wahl für das Abgeordnetenhaus im Jahr 2016, als nur rund 66 Prozent zur Wahl gingen. Die vielen zu koordinierenden Wahlen mögen in einigen Wahllokalen chaotisch verlaufen sein, die Wahlbeteiligung haben sie verbessert.

Schaut man sich die einzelnen Wahlkreise an, sieht das Bild schon etwas anders aus. In Marzahn-Hellersdorf lag die Wahlbeteiligung mit 85,3 Prozent am höchsten im Süden – in Kaulsdorf und Mahlsdorf. Danach folgt mit 76,2 Prozent Wahlkreis 4, der sowohl Biesdorf als auch Springpfuhl und die Marzahner Chaussee umfasst. In Kausldorf Nord und Hellersdorf Süd allerdings beteiligten sich nur 66,3 Prozent der Menschen an den Wahlen. In Hellersdorf-Nord sowie in Ahrensfelde und dem Marzahner Westen und Osten waren es sogar nur um die 60 Prozent. In Teilen des Bezirks sind also 40 Prozent der Bewohner:innen nicht zur Wahl gegangen.

Uta Glienke nennt sich „Marzahner Bürgerin“ und ist vielfach ehrenamtlich engagiert im Bezirk. Unter anderem lief sie früher mit der „Kiezgruppe gegen Rassismus“ mit einem Bollerwagen durch den Bezirk und kam mit Nachbar:innen ins Gespräch. „Wir wollen die 40 Prozent Nichtwähler erreichen“, sagt sie. Gemeinsam mit dem Soziologen Raiko Hannemann hat sie eine Bürgerinitiative gestartet, um Bürgerräte im Bezirk zu gründen. Hannemann arbeitet seit 2015 im Bezirk, seit 2017 an der Alice-Salomon-Hochschule. Er forscht zum Thema Demokratieentwicklung.

Ihre Idee für die Bürgerräte: Eine Gruppe von Menschen, die zufällig aus dem Melderegister ausgelost wird, soll sich für je zwei Wochenenden zusammensetzen, um Lösungsvorschläge für Probleme im Bezirk zu finden. Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) soll sich verpflichten, die Ergebnisse der Diskussionen aufzunehmen und in bindende Beschlüsse zu gießen.

Bürgerräte gab es – mit unterschiedlichen Kompetenzen – bereits in anderen Ländern wie Schottland oder Kanada. In Irland ging es um Geschlechtergerechtigkeit; in Frankreich und England erarbeiteten Bürgerräte im vergangenen Jahr etwa Klimaschutzvorschläge. Auch in Deutschland war im vergangenen Jahr ein Klima-Bürgerrat eingerichtet worden, und auf Landesebene hat der Berliner Klimabürgerrat seine Empfehlungen im Juni an Senat und Abgeordnetenhaus übergeben.

Gibt es als Lokalpolitiker:in, mit der Einwohnerfragestunde in der BVV, zahlreichen Bürgerversammlungen, Partizipationsverfahren und Co. nicht genügend Beteiligungsformate im Bezirk? Nein, finden Glienke und Hannemann. Bzw. die falschen.

„Die Menschen wollen mitmachen“, sagt Glienke. „Aber für introvertierte Menschen ist das System nicht geschaffen.“ Um eine Antwort auf eine Einwohneranfrage in der BVV zu erhalten, müssten die Einreicher:innen alleine vor die Verordneten ans Mikrofon treten und fehlerfrei die Fragen ablesen. „Ich habe schon Menschen gesehen, die zitternd vor den Politikern standen“, sagt Glienke.

Auch für viele andere sei die Teilnahme schwierig: Junge Eltern und vor allem Alleinerziehende könnten Abendtermine schlecht wahrnehmen. Andere hätten Probleme, weil die Formalia zu kompliziert seien. Außerdem seien viele Beteiligungsverfahren aus ihrer Sicht nur Pseudo-Verfahren. Wenn Vorschläge, die dabei von Bürger:innen kämen, nicht berücksichtigt würden – „Wenn man eine solche Erfahrung macht – macht man’s dann nochmal?“

Hannemann erklärt, dass auch Volksentscheide nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich seien. Das zeige unter anderem ein Beispiel aus Hamburg. Dort habe es eine Initiative für eine Schulreform gegeben. Eine Bürgerinitiative aus Menschen aus der „akademischen Mittelschicht“ habe sich dagegen gestellt. Weil sie Geld hatten, konnten sie eine großangelegte Kampagne gegen die Reform fahren und hatten letztlich auch Erfolg. So setzten sie sich schließlich „gegen den Mehrheitswillen“ durch, sagt Hannemann.

Bürgerräte funktionieren anders. Dort ist im besten Fall ein Querschnitt aus der Gesellschaft vertreten – jung und alt, Mann, Frau, divers, Muttersprachler:innen und Menschen anderer Herkunft, Alleinerziehende und Paare etc. -, je nach Anteil an der Bevölkerung vor Ort. Etwa zweimal im Jahr könnten unterschiedliche Gruppen von rund 50 Teilnehmer:innen ausgelost und zu bestimmten Themen befragt werden, die im Bezirk gerade wichtig seien.

„Nicht alle werden sich zurückmelden“, weiß Glienke aus der Erfahrung anderer Bürgerratsinitiativen. „Es wird die geben, die denken, dass sie keine Zeit haben, andere, die denken, die Politik habe ja noch nie auf sie gehört, warum sollte das jetzt anders sein.“ Auf jene, die nicht auf die Einladung antworten, müsse man zugehen, ihre Sorgen klären und Ängste nehmen. Damit alle an den Diskussions-Wochenenden teilnehmen können, soll es Unterstützung geben: zum Beispiel Kinderbetreuung und Aushilfspflegekräfte. Die Diskussionen sollen professionell moderiert werden und auch jene einbeziehen, die normalerweise weniger wortgewandt sind. Um die Räte zu koordinieren, soll eine Stelle im Bezirksamt geschaffen werden. Finanzieren soll das der Bezirk.

Glienke und Hannemann hoffen, bereits im nächsten Jahr die ersten Bürgerräte zu installieren. Die bisherigen Rückmeldungen im Bezirk seien positiv gewesen. Nun wollen sie auf die demokratischen Parteien zugehen. Bezirksbürgermeister Gordon Lemm habe sich bereits „begeistert von der Idee“ gezeigt.

Auf Anfrage sagt Lemm: „Bürgerräte sind ein starkes Instrument der Beteiligung.“ Der Bezirk plane, eine Anlaufstelle für Beteiligung zu schaffen. Da könnte auch eine Koordinierungsstelle für einen Bürgerrat angedockt werden. Aktuell sei man noch in der Planungsphase.