Nachbarschaft

Veröffentlicht am 19.03.2019 von Ingo Salmen

Eine Reise in eine Marzahner Kindheit. Als Model, Autorin und für soziale Projekte hat Antje Waldschmidt Länder rund um den Globus gesehen. Am 18. April erscheint ihr Buch „Kein Tee mit Mugabe“, ein Reisebericht über einen Rucksacktrip durch das südliche Afrika. Kürzlich hat die 34-Jährige ein Praktikum beim Tagesspiegel absolviert. Beiläufig erzählte sie, dass sie aus Mahlsdorf kommt – und früher in Marzahn wohnte. Deshalb haben wir sie gebeten, an den Ort ihrer Kindheit zu reisen. Hier schildert sie, was sie gesehen hat – und was ihr dabei einfiel.

Kaum habe ich den langen Tunnel am S-Bahnhof Springpfuhl verlassen, bleibt mein Blick an einem der drei gelb-orangenen Doppelhochhäuser kleben. Eins, zwei, drei … ich zähle neun Stockwerke. Dort muss sie gewesen sein, jene Wohnung, in der ich die ersten zwölf Jahre meines Lebens verbracht habe: Helene-Weigel-Platz 7. Und wenn ich zurückblicke, dann ist es auch der längste Zeitraum, den ich überhaupt an einem Ort gelebt habe. Denn heute habe ich die Welt bereist, in Spanien, China, Namibia, Südafrika und Mexiko gelebt, in Städten wie Hongkong, Barcelona, London, Kapstadt, Nairobi und Istanbul. An den Springpfuhl in Marzahn bin ich kein einziges Mal zurückgekehrt. Warum eigentlich?

Einige Jahre nach der Wende haben wir Marzahn den Rücken gekehrt. Wir: Das sind meine Eltern und meine beiden älteren Schwestern. Damals ging es raus aus der Wohnung in der Platte – rein ins Eigenheim nach Mahlsdorf-Süd. Alle wollten weg von der Platte. Dabei ging die Reise eigentlich nur neun Kilometer weit. Gefühlt lagen Welten dazwischen: Den Ton an meiner neuen Schule empfand ich als sanfter, den Schulhof grüner. Womit ich erst viel später punkten konnte: dass einer meiner neuen Mitschüler Tim Bendzko hieß.

Ich laufe vorbei an Hochhaus Nummer 7, einer Wiese, dem Springpfuhl, Heimathafen meiner Kindheit, der grundsanierten Schwimmhalle. Der chlorige Geruch aus Kindertagen steigt in meine Nase: In der dritten Klasse kam ich zwei Mal die Woche zum Schwimmunterricht her. Nie konnte ich genug davon bekommen, in dem kleinen Becken nach Plaste-Ringen zu tauchen. Nun biege ich links ab, gehe am Spielplatz vorbei, dann durch das Akazienwäldchen: Diesen Abschnitt meines Schulwegs mochte ich immer besonders gern – bis auf die Tage, an denen sich die älteren Schüler hier in Gruppen verschanzten, um zu rauchen, knutschen oder pöbeln.

In der Ferne sehe ich den großen Sportplatz. Links müsste meine alte Schule „Unter dem Regenbogen“ stehen – doch das einzige, was ich sehe, ist ein Supermarkt. Ich laufe über den Parkplatz und erkenne deutlich meine alte Sporthalle, sie kannte schon mal bessere Tage. Dahinter nehme ich einen blauen Flachbau wahr, eine Billardbar: Ist das nicht unser ehemaliger „Essenswürfel“? Die „29. Grundschule Marzahn – Grundschule unter dem Regenbogen“ – es gibt sie doch noch. Nur 500 Meter weiter. Noch in den 90er Jahren ist sie in eine Gesamtschule umgezogen, die nicht mehr benötigt wurde. Geblieben ist Frau Knoppick, Christiane Knoppick, die Schulleiterin schon zu meiner Zeit. Ganz plötzlich scheint mir meine Kindheit am Springpfuhl gar nicht mehr so fern zu sein.

An meiner Schule gab es zwei Kinder mit Migrationshintergrund, wie es heute heißt. Algema aus der Mongolei und Claudia, ein dunkelhäutiges Mädchen. Ich muss gestehen, ich weiß nur wenig über die beiden, bereits nach der zweiten Klasse verließen sie uns. Allerdings erinnere ich mich an die Hänseleien, denen sie auf dem Schulhof ausgesetzt waren. Einmal kam es zu einer Diskussion mit unserer Lehrerin, weil eine Mitschülerin Claudia als „Schokoneger“ bezeichnet hatte. Diese Beschimpfungen waren nicht selten. Mir riefen ältere Schüler auf dem Nachhauseweg „Fidschi“ nach – wenn ich lache, bekomme ich „Schlitzaugen“, wie meine Freundinnen damals „liebevoll“ sagten.

Der Ton war rau, auch unter Kindern. Doch in der Platte gab es immer Freunde zum Spielen, der Blick aus dem 24. Stock der Wohnung meiner Freundin war grandios, die Filmnachmittage im Kino Sojus legendär. Am Ende war meine Kindheit unbeschwert, während der Ruf Marzahns, die verpönte Platte meine Jugend durchaus geprägt haben. Auch mir wurde dieses Bild ein bisschen auferlegt. Vielleicht wollte ich deshalb so lange nicht zurück an diesen Ort. Das Haus meiner Kindheit hat heute übrigens einen Wikipedia-Eintrag: als Ökologie-Doppelhochhaus mit Photovoltaikanlage.

Das Bild ist vor der alten Turnhalle entstanden.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-i.salmen@tagesspiegel.de