Nachbarschaft
Veröffentlicht am 05.05.2020 von Ingo Salmen

Klaus Teßmann, Journalist und Unikum aus Berlin, * 12. Januar 1953, + 27. April 2020.
Nur einer durfte in meiner Facebook-Timeline Essensfotos posten. Nicht von irgendwelchen wilden Kreationen, nein, immer vom Bodenständigen. Von Fisch mit Stampfkartoffeln und Zwiebelfett oder Bohnen-Eintopf. Selbst gemacht, wie man es sonst nur noch von Muttern kennt, jeden Tag neu, die Bilder kamen immer mittags. Es waren Nahaufnahmen, in denen man die Fettaugen zählen konnte, wo das Einfache so wunderbar reichhaltig daherkam, die von einer Lebensweise zeugen, wie sie heute nur noch selten anzutreffen ist: dem umfänglichen Genuss, genährt aus dem Wissen und dem Können des Althergebrachten, mit ständiger Lust auf Neues, das diese Welt auch noch zu bieten hat, wenn man nur genau hinschaut.
Klaus Teßmann war ein Mensch, der hinschauen konnte. Ich kannte ihn nur kurz und nur von wenigen Begegnungen, die wir bei gemeinsamen journalistischen Terminen in Marzahn-Hellersdorf hatten. Dort kannte er sich aus, war immer unterwegs, wo die Sorgen und Anliegen der Leute zu finden sind – und ihre Geschichten, die sie erzählen möchten. Er war einer, dem die Menschen am Herzen lagen, ein Chronist des Alltags, der genau deshalb unbestechlich war, weil er jeden Winkel des Bezirks schon gesehen hatte. Ich habe ihm deshalb oft, wenn ich in diesem Newsletter seine Artikel aufgegriffen habe – meist aus „Lichtenberg Marzahn Plus“, manchmal aus der „Berliner Woche“ – das Adjektiv „kundig“ vorangestellt. Genuss und Kenntnisreichtum trafen sich, wenn er, der mit seinem vollen Bart so herzlich daherkam, zwischen seinen massigen Fingern leicht einen Zigarillo balancierte und von hier und dort erzählte.
Er hatte noch viel vor, doch es war ihm nicht mehr vergönnt. Das große Herz hörte Anfang vergangener Woche auf zu schlagen, mitten aus einem vollen Leben gerissen, in dem er sich ehrenamtlich für das Gründerzeitmuseum in Mahlsdorf und die Spielplatzinitiative Marzahn engagierte. Viele haben ihre Trauer bekundet, mit Birgitt Eltzel und Volkmar Eltzel haben zwei einen Nachruf geschrieben, die ihm seit Jahrzehnten nahe waren. Eines seiner letzten Fotos bei Facebook zeigt Klaus Teßmann inmitten einer struppigen Ecke im Garten, die mancher verloren geben würde. Da kniet er, der Erde verbunden, und schaut auf den braunen Boden. „Kräuter, die man als Unkräuter bezeichnet“, habe er gesucht, kommentierte er später, er wollte „die Küchenkräuter befreien, damit sie sich entfalten können“. Das Gute im Ungeliebten, das sah der kundige Klaus. – Text: Ingo Salmen
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