Nachbarschaft

Veröffentlicht am 26.05.2020 von Caspar Schwietering

Der Montag war mal wieder ein richtig schöner Tag, sagt Fred Schöner. Mit ein paar Mitstreiter*innen hat er am Nachmittag sein „Kino Kiste“ in Hellersdorf Corona-gerecht umgebaut. Statt 50 Menschen passen nun mit Abstand nur noch 33 Zuschauer*innen in den Saal. Ob er den bald wieder öffnen darf, weiß Schöner zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst am Dienstag verkündet der Senat, dass am Donnerstag wohl die Wiedereröffnung der Kinos beschließen wird. Die Kino-Betreiber*innen sind damit mit die Letzten, denen die Politik die Rückkehr in Aussicht stellt, aber Schöner wollte trotzdem etwas tun. „Wenn es keine Perspektive gibt, dann kommt diese Lethargie und dann gehste kaputt“, sagt er am Telefon fröhlich.

Schöner ist keiner, der sich leicht unterkriegen lässt – dafür ist er zu krisenerprobt. Seit 1988 führt der heute 60-Jährige das Kino Kiste. In der DDR hat er als Gründer eines Filmklubs angefangen. Mehrmals stand er in diesen langen Zeiten vor dem Aus. Nach den turbulenten Wendejahren und vielen Berliner Sparrunden lief es zuletzt eigentlich besser für sein kommunales Kino, doch dann kam die Pandemie.

Derzeit wünscht er sich vor allem, dass er die Parkbühne Biesdorf bald wieder öffnen kann. Dort lädt er normalerweise zu Freiluftkino und Konzerten ein. Schöner hat den Zuschauerraum in der Parkbühne bereits umgebaut – hat Bänke rausgerissen, um breite Wege zu schaffen, und die Sitzplätze so positioniert, dass zwischen den Gästen ganz viel Platz ist. Statt etwas mehr als 800 Zuschauer*innen könnten so nur 112 einen Film oder ein Konzert sehen. An der frischen Luft müsste das Infektionsrisiko so eigentlich überschaubar sein, glaubt Schöner. Er hofft deshalb, dass hier das Publikum rasch zurückkehrt.

Das Programm hat sich Schöner bereits überlegt. Zunächst würde er gerne die Filme präsentieren, die er im März nicht mehr spielen konnte – die „Känguru-Chroniken“ etwa. Außerdem will er viele Musikfilme zeigen, falls Konzerte weiter verboten bleiben. Ganz sicher würde Schöner dann auch wieder „Blutige Erdbeeren“ zeigen. Der amerikanische Film erhielt 1970 in Cannes den Preis der Jury, „aber zum Kultfilm wurde er eigentlich nur in der DDR“, sagt Schöner. Immer wieder hat er diesen Film gezeigt. In den Neunzigern lief er sogar jeden Freitagabend als Mitternachtsvorstellung.

Leute zusammenbringen – das liege ihm einfach, sagt Schöner. Weil sein Vater selbstständig war, durfte er in der DDR nicht studieren. Nach der Schule und der Armee war Schöner deshalb unschlüssig, was er machen sollte und fing an der Fachschule für Klubleiter in Meißen eine Ausbildung an. In seiner Heimat Mühlhausen in Thüringen organisierte er anschließend Kulturveranstaltungen. Und als er 1987 nach Berlin kam, dauerte es nicht lange, bis er auch in Hellersdorf und Marzahn wieder in diese Rolle rutschte.

Zusammen mit ein paar Mitstreiter*innen gründete er den Vorläufer des Kino Kiste. „Wir haben damals ein besonderes Programm gezeigt“, sagt Schöner. Etwa die Filme des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda oder eine Dokumentation über Tschernobyl. Möglich war das nur mit einem Trick. Denn für ihren Filmklub waren die staatlichen Stellen für Kultur und die für Jugendarbeit zuständig. Immer wenn es Probleme gab, dann sagte Schöner, die andere Stelle habe den Film genehmigt.

1990 bauten sie dann das Gebäude, in dem heute das Kino Kiste residiert, in Eigenregie um. Sie machten einen Durchbruch im Beton und bauten eine Vertiefung ein, damit der Zuschauerraum nach oben hin ansteigen konnte. Die Zeiten, in denen sie so den Grundstein für ihr Kino legten, waren äußerst turbulent. Im Freizeitforum Marzahn, in dem Schöner angestellt war, setzte ein Massenexodus ein. „Vor der Wende waren wir da über hundert Leute“, sagt er, „und irgendwann waren wir nur noch zu dritt.“

Auch Schöner hielt sich zeitweise mit ABM-Jobs über Wasser. Die Förderung für das Kino und andere Projekte wurde seinem Verein immer mal wieder radikal zusammengestrichen. Aber zuletzt sei es eigentlich ganz gut gelaufen, sagt Schöner. Etwas mehr als 100.000 Euro bekomme er derzeit vom Bezirk, sagt er. 300.000 brauche er für sein Budget. Die Differenz konnte er zuletzt immer erwirtschaften. Doch nun ist da Corona. Noch stehe das Kino Kiste aber ganz gut da. Die Mitarbeiter musste Schöner zwar in Kurzarbeit schicken. „Bis Ende Dezember können wir derzeit aber durchhalten“, sagt er. Geholfen haben ihm dabei Spenden und die Auszeichnung mit dem Kinoprogrammpreis Berlin-Brandenburg (darüber schrieb ich im vorigen Newsletter). Insgesamt 20.000 Euro hat das Kino Kiste im Zuge dessen vom Medienboard Berlin-Brandenburg bekommen.

Doch fast genauso wichtig war ihm die Anerkennung – etwa die Glückwünsche von Stadträtin Juliane Witt (Linke). An Anerkennung für seine Arbeit – das will Schöner bei aller Gelassenheit schon einmal sagen – hat es ihm Bezirk manchmal etwas gefehlt. Um ihr Publikum hätten er und seine Mitstreiter*innen angesichts der wechselnden Einwohnerschaft im Bezirk und der schwierigen Nachbarschaft in der „Hellen Mitte“ häufiger kämpfen müssen. Seine größte Sorge ist deshalb während der Coronakrise gar nicht finanzieller Art. Schöner will nicht, dass sein Kino vergessen wird. Anfang Juni wird er deshalb das Café wieder öffnen – mit Abstand und einer Ausstellung, die Fotos von den schönsten Konzertabenden im Kino und in der Parkbühne zeigt.

Foto: Privat; Text: Caspar Schwietering

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-i.salmen@tagesspiegel.de

+++
Dieser Text erschien zuerst im Tagesspiegel-Newsletter für Marzahn-Hellersdorf. 212.000 Abos haben unsere Bezirksnewsletter schon. Die gibt es kostenlos und in voller Länge und für jeden Berliner Bezirk unter leute.tagesspiegel.de.
+++

Hier die weiteren Themen im Tagesspiegel-Newsletter Marzahn-Hellersdorf: 

  • Bildungsmangel: Wie kann der Unterricht in der Pandemie verbessert werden?
  • Holzbauschule: Ist der Standort in der Landsberger Straße doch nicht sicher?
  • Nach Unfalltod eines Radfahrers: Neue Debatte über die künftige Verkehrsführung am Marzahner Knoten
  • „Tag der Nachbarn”: Dieses Jahr ist alles anders
  • Das Marzahner Hammerwurfmeeting soll stattfinden
  • Bundesverfassungsgericht: Die SPD aus Marzahn-Hellersdorf unterstützt den ostdeutschen Kandidaten Jes Möller
  • Die Tempohomes am Blumberger Damm müssen abgerissen werden
  • Nach Hinweis auf fehlende Masken: 53-Jähriger wird vor Marzahner Supermarkt verprügelt